Zum Musical-Gucken nach Italien? Für die solide “Jekyll & Hyde”-Produktion im Stadttheater Bozen lohnt sich ein Abstecher in den Süden.
Auch ein Teil Norditaliens gehört zum deutschen Sprachraum. Je weiter man in Europas Norden kommt, umso weniger Menschen ist das bewusst. Die Vereinigten Bühnen Bozen (VBB) stellen in der 100.000-Einwohner-Stadt in Südtirol jährlich ein deutschsprachiges Musical auf die Bühne. Dabei kommt dem Theater zugute, dass das Geld in Südtirol nicht so knapp ist wie anderswo, und dass jeder Steuerzahler (statt einer Kirchensteuer) fünf Promille seiner Einkommenssteuer einem gemeinnützigen Zweck seiner Wahl zukommen lassen muss – zum Beispiel eben dem Theater. Das in den neunziger Jahren eröffnete Stadttheater verfügt über kein eigenes Ensemble, für jede Produktion wird neu gecastet. Aktuell (bis 1. Juni 2007) zeigen die VBB eine solide Version von “Jekyll & Hyde” mit Henrik Wager und Aleksander di Capri (alternierend) in der Titelrolle.
Wer die Inszenierung von Dietrich Hilsdorf (Bremen, Köln, Wien) kennt, wird in Bozen einges wiedererkennen. Viele der Kostüme (Rainer H. Gawenda) sind eng an die Hilsdorf-Inszenierung angelehnt, etwa Hydes brauner Fellmantel, Nellies strenges Kostüm und die verschiedenen Lisa- und Lucy-Kleider. Auch in der Inszenierung von Hans Holzbecher tauchen bekannte Elemente auf: etwa, wenn Lucy bei ihrem Solo das Zimmer verlässt und vor eine Himmelsprojektion tritt, Hyde bei “Gefährliches Spiel” seinen Mantel um Lucy legt oder ihr am Fußende des Bettes die Kehle aufschneidet und viel Blut fließt. Das ist nicht übermäßig innovativ, aber völlig in Ordnung: Warum sollte man gute Einfälle nicht übernehmen?
Da, wo sich die Inszenierung vom europäischen Original löst, gibt es Licht und Schatten. Sehr viel schlüssiger ist die Verhandlung des Krankenhaus-Vorstands. Holzbecher hat im ersten Akt einige Sprechtexte wieder eingefügt, die die Motivation der Reichen beleuchten, Jekylls Ansehen so vehement abzulehnen: Weil ihre gesellschaftliche Stellung auf der Angst der Anderen beruht, und diese in Gefahr wäre, wenn man das Böse eliminieren könnte. Auch der Übergang von “Fassade” zur Verlobungsfeier ist schön gelungen: Gegen Ende des Songs stellt sich die Upper Class mit hochnäsigem Blick zum Familienbild auf – und illustriert damit den Reichen-Hass der Armen. Interessant auch die Idee, “Schafft die Männer ran” nicht als billig-armseligen Showsong, sondern als Cabaret-Nummer im “Chicago”-Stil mit Stühlen, Kickline und leicht bekleideten Herren auf die Bühne zu bringen.
Allerdings beginnen damit auch die Probleme. Lucy (Sigalit Feig) präsentiert sich im Song und der anschließenden Dialogszene mit Jekyll als Showgirl aus Leidenschaft, auch auf Spider reagiert sie eher patzig als ängstlich. Keine Spur von Zerbrochenheit oder Schwäche. Das rächt sich, wenn der Text später genau das fordert. Die Figur wird dadurch undurchschaubar, entsprechend sorgen weder “Gefährliches Spiel” noch die Mordszene für große Emotionen.
Ähnliches, wenn auch abgeschwächt, gilt für die Titelfigur. Aleksander di Capri (in der besuchten Vorstellung) singt die anspruchsvolle Rolle tadellos und spielt mit großem Engagement. Der Jekyll ist sehr viel nervöser und charakterschwächer angelegt als bei Hilsdorf – das ist auch sinnvoll, denn schließlich ist es Jekylls stures Festhalten an seinen einmal begonnenen Experimenten, das Hyde den Weg ebnet. Das Problem: Die Figur des Hyde bildet keinen ausreichenden Kontrast. Statt dämonische Ruhe auszustrahlen, läuft auch er wild durch die Gegend. “Das Gefühl von Edward Hyde” ist dadurch eher langweilig, die “Konfrontation” verwirrend: Weil Jekyll/Hyde ständig in Bewegung ist und man als Zuschauer höchstens noch an der gerade gewählten Lichtfarbe (grün oder blau) erkennen kann, wer von den beiden gerade singt. Bei den emotional starken Nummern hätte es stärkere Bilder gebraucht. Ein weiteres Beispiel ist “Die Welt ist völlig irr”: Jekyll steht auf einer Brücke vor einer Projektionswand, darauf blubbern albern verzerrte Bilder der Mordopfer. Die Nummer verpufft völlig und bekommt nichtmal Szenenapplaus.
Die positive Überraschung der Show ist die Lisa (Beatrix Reiterer): Sie ist die interessanteste Figur auf der Bühne. Holzbecher und Reiterer legen sie sehr viel reifer und erwachsener an als in früheren Produktionen. Lisa ist nicht mehr das langweilig-rosafarbene Mädchen aus gutem Haus, sondern eine Frau, die nur ihrem ängstlichen Vater zuliebe bei Society-Feiern anwesend ist, sich dort aber gegen die Anmaßungen der Upper Class zur Wehr zu setzen weiß. Durch ihre Stärke wird glaubwürdiger, warum Jekyll sie liebt – und warum er sie nie für Lucy verlassen würde. Aber auch, warum Lisa fassungslos ist und kämpft, als Jekyll ihr langsam in den Wahnsinn entgleitet.
Ein weiterer Pluspunkt: die musikalische Leistung (Leitung: Stephen Lloyd). “Fassade” kommt derart druckvoll und auf den Punkt über die Rampe, dass sich für Musicalfreunde allein dafür der Eintrittspreis lohnt. Die Ensemblenummern (inklusive dem bei der Hilsdorf-Inszenierung im Laufe der Spielzeit gestrichenen “Bitch, Bitch, Bitch”) sind durchweg musikalisch klasse. Das Publikum profitiert dabei von der leistungsstarken, extra für diese Produktion ins Theater geholten Tonanlage, und davon, dass (weil es keinen Hauschor gibt) ausschließlich Musicalprofis auf der Bühne stehen. Bei den Solisten fällt besonders di Capri positiv auf. Allerdings ist die Bewertung schwierig, weil die Tontechnik oft zu viel Hall auf die Stimmen legt.
Zum Musicalgucken nach Italien fahren? Warum nicht. Wenn die VBB bei der Spielplangestaltung ähnlichen Mut beweisen wie in dieser Saison (in den Vorjahren gab es das Musical-Standardrepertoire mit “West Side Story”, “Jesus Christ Superstar” und “Evita”), dann lohnt die Reise. Zumal die Südtiroler Bergwelt wirklich schön ist, und die Unterkünfte ebenso bezahlbar sind wie die Tickets (30 Euro für die teuersten Karten). Von München fährt man mit dem Zug gut vier Stunden.
Informationen: theater-bozen.it. Besetzung: Henrik Wager, Aleksander di Capri (Jekyll/Hyde), Sigalit Feig (Lucy), Beatrix Reiterer (Lisa), Paul Vaes (Sir Danvers Carew), Thorsten Tinney (Utterson), Linda Hold (Nellie), Rob Pelzer (Simon Stride), Ray Strachan (Spider), Josef M. Lanz (Poole), Petra Weidenbach (Lady Beaconsfield), Mathias Schiemann (Bischof von Basingstoke), Karl-Heinz Macek (General Lord Glossop), Christof Maria Kaiser (Sir Archibald Proops), Peter Schorn (Lord Savage), Sabine Neibersch, Ramona Ludwig, Katharina Strohmayer, Doris Warasin, Barbara Gall, Marny Bergerhoff, Dave Moskin, Lutz Standop, Riccardo Pusceddu, Johannes Beetz, Thomas Huber, Japheth Myers, Luciano Di Dio, Liz Marmsoler.