Es wirkt, als läge auf dem “Meinungsmärchen mit Musik” von Constanze Behrends, Franziska Kuropka (Buch), Lukas Nimscheck (Musik) und der Inszenierung von Mathias Noack der Fluch von Schneewittchens böser Stiefmutter. Einzig der gute Cast kann den bösen Bann brechen.
“Ein queeres Schneewittchen, das ist so vogue!”. Influencerin Lilly Juice (Laura Goblirsch), im Netz präsent mit Postings zu Beautyprodukten und Tütensuppen, wittert in der Übernahme der Hauptrolle in der Neuverfilmung des Märchenstoffes ihre große Karriere-Chance. Dieses Angebot bekommt sie allerdings nur, weil sie die Freundin der Autorin Jasmina Rau (Tara Friese) ist, deren progressiv-feministischer Roman “Aische Merkel” von der Literaturkritik gefeiert wird. Juniorproduzentin Vanessa Edler (Anna-Sophie Weidinger) macht dieses “Besetzungscouch-Zugeständnis” nur, weil sie die lesbische Schriftstellerin für eine “Schneewittchen”-Version braucht, von der der auftraggebende Streaming-Anbieter erwartet, dass sie jedermann, jederfrau und jedermensch unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung politisch-korrekt begeistern soll. Damit auch ein pseudo-voyeuristische Reality-Formate mit Drama und platten Gags konsumierender Zuschauerkreis angesprochen wird, verpflichtet die unter Druck stehende Vanessa ihren schwulen Bruder Philipp (Nathan Johns) als Co-Autor. Als Darsteller der männlichen Hauptrolle im Film stößt der eitel-narzisstische Schönling August Kling (Fabio Kopf) zum “Schneewittchen”-Team.
Bereits diese Ausgangssituation des Musicals von Constanze Behrends und Franziska Kuropka birgt jede Menge Konflikt-Potenzial. Im Laufe der Handlung kommen immer neue Problemsituationen hinzu, für die die Autorinnen keine Lösungen anbieten. Ihr Buch reißt Themen wie bisexuelle Umorientierung, Drogenkonsum, Bruder-Schwester-Konflikt, Nötigung zu bizarren sexuellen Praktiken und Vorurteile gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe nur an. Das Publikum wird mit seiner “Ach ja, das gibt es ja auch noch”-Einsicht allein gelassen, da sich bereits die nächste “Baustelle” auftut. Unnötiger Schlusspunkt ist eine chaotische Pressekonferenz, die an das Ende der 1990er Girl-Group “Tic Tac Toe” erinnert und auf der Schauspieler August Kling seine Autobiografie “Männliche Entgiftung” vorstellt.
Es ist eindeutig Aufgabe eines Regisseurs, ein solches, in sich selbst verlierendes Handlungs-Wirrwarr nachvollziehbar für das Publikum auf die Bühne zu bringen. Matthias Noack schert das allerdings wenig. Seine Inszenierung punktet zwar in den zahllosen, zum Teil stark überzeichneten Interpretationen des bekannten Märchenstoffes als “Schneewitt” beziehungsweise “Schnittchen” mit nichtbinären Darstellenden, einem Soft-Porno-Prinzen Superhot und LGBTQIA+-Regenbogen-Zwergen, bleibt aber außerhalb der schrillen Märchenwelt eigenartig blutleer. Dramatische Szenen wie die Teambildungs-Maßnahme “Saufen”, die in den Missbrauchs-Vorwürfen von Frauen gegen den “Prinzen” als Cliffhanger vor der Pause gipfelt, verpuffen im emotionalen Nichts. Gleiches gilt für den Beginn des zweiten Teils, in dem Fabio Kopf als August seine Verzweiflung und Wut in einem Steppsolo ausdrückt. Dabei überdeckt das Klackern seiner Schuhe jedoch den anklagenden Gesang der Frauen, die hinter ihm in an Telefonzellen erinnernden Plexiglas-Kuben stehen. Sie bilden die einzigen Ausstattungs-Elemente im ansonsten leeren, mit zwei Spiegelfolien begrenzten Bühnenraum von Lukas Pirmin Wassmann. Von ihm stammt auch das stimmige farbenfrohe Kostümbild.
Ähnlich wie die Inszenierung gleichen die Kompositionen von Lukas Nimscheck einem Gemischtwarenladen. Die Musik bedient sich gekonnt sowohl süßlichen Balladen-Anleihen wie aus einem Disney-Film (“Ich bin bereit”), parodiert Musicalstandards (“Jeanny-Song”) und liefert mit dem gerappten “LGBTQIA+ – In the power of love” einen CSD-Partysong. Allerdings besitzt Nimschecks Partitur wenig Ohrwurm-Potenzial. In der besuchten Vorstellung klingt die Tonabmischung sehr unausgewogen und blechern, was die Textverständlichkeit beeinträchtigt. Auch deshalb verschenkt die auf der Hinterbühne versteckte 7-köpfige Band unter der Leitung von Markus Syperek viel Potenzial.
Das ganz große Plus dieses sehr langatmig wirkenden Musical-Abends bilden die Studierenden der Berliner Universität der Künste. Tara Friese, Laura Goblirsch, Nathan Johns, Fabio Kopf und Anna-Sophie Weidinger zeigen in ihren Rollen eine immense Bühnenpräsenz und spielen ihre manchmal recht eindimensional wirkenden Charaktere exakt auf den Punkt. Ebenso meistern sie die herausfordernden Choreografien von Sabine Hack in höchster Präzision mit großer Körperlichkeit. Mit ihren musikalischen Solo-Aufgaben und ganz besonders in den Ensemble-Nummern unterstreichen alle fünf das große Potenzial, das in ihnen steckt. Es benötigt keine “Spieglein, Spieglein an der Wand”-Befragung, wer von ihnen der/die Beste im schrägen Musical-Märchenland ist und wäre höchst ungerecht, hier einzelne Leistungen hervorzuheben. Das Darsteller-Quintett trotzt mit einer unbändigen Energie allen Unwägbarkeiten von Buch, Komposition und Regie.
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