© René van der Voorden
© René van der Voorden

Ewig jung (seit 07/2022)
Capitol, Mannheim

Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
 

Das liebevoll inszenierte und herausragend besetzte Musiktheaterstück präsentiert in der Mannheimer Version des Capitol-Theaters eine emotionale Differenziertheit, die neben dem offensichtlichen und teils derb-schwarzen Humor auch Melancholie und Betroffenheit weckt. Eine Ode an das Altwerden und Jungbleiben in all seinen Facetten.

Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Nachdem die gestrenge, kontrollsüchtige und egomanische Schwester Rosa den Aufenthaltsraum des Seniorenheims verlässt, um ihre senilen Schützlinge dem leeren Alltag zu überlassen, erwachen die hochbetagten ehemaligen Schauspieler aus ihrer Lethargie. Fast so wie Kinder sich benehmen, wenn die Erwachsenen nicht hinsehen. Nacheinander lernt der Zuschauer alle Bewohner des Heims schauspielerisch und musikalisch kennen.

Der stumme und lungenkranke Pianist Herr Graubusch macht den Anfang, gefolgt vom kauzigen Herrn Rotgerber, der eine besondere Bindung zu seinem Goldfisch hat. Die grummelige und vulgäre Frau Schwarzmann entpuppt sich als lüsterne Witwe mit Umweltaktivisten-Vergangenheit. Das niedliche Liebespaar bestehend aus Herrn Grünberg und Frau Adelweiss frönt seinen Shakespeare-Rezitationen aus alter Zeit und Herr Doblau schöpft aus seiner großen Kiste mit Erinnerungen an die Vergangenheit. Im Laufe des Stücks lernen wir weitere Details zu den diversen Krankheiten und Gebrechen der Hauptfiguren kennen – einer Dame fehlt ein Bein und sie wird von Tourette-artigen Ausfällen geplagt, die andere hat Parkinson und trägt eine Perücke, unter der sich dünne graue Haare verbergen, ein weiterer redet oft wirr und zusammenhangslos, wieder einer hat Rheuma und Herzprobleme und der letzte in der Reihe ist zumeist mehr geistig weggetreten als anwesend. Trotz der immer wieder einsetzenden Erinnerung an das unliebsame Thema des Alterns und des unausweichlichen nahenden Lebensendes der hochbetagten Protagonisten finden diese immer wieder Freude im Miteinander. Sie tanzen eng umschlungen mit kleinen Trippelschritten, um nicht zu stürzen. Die Herren legen einen mühsamen Striptease hin. Es wird ein Joint durch die Runde gereicht, der alle auf einen Drogentrip sendet. Eine Slapstick-Prügelei wie bei “Tom und Jerry” wird untereinander ausgefochten. Es wird abgerockt und gefeiert. Dem Altern wird nicht nachgegeben – die Hauptfiguren wollen ganz getreu des Titels “Ewig Jung” bleiben.

Das Buch zeigt sich bissig und beklemmend in der Grundthematik des Alterns und Sterbens, sprüht aber vor Humor: Alberne Pupswitze und Slapstick, tiefschwarzer Humor, Wortwitz, Imitationen und Szenenkomik füllen das Stück nahezu ausufernd. Überraschend gut funktionieren die eingeschobenen, meist plötzlich auftretenden Momente von Wehmut und Trauer, die das Altern begleiten. Ohne einen großen Handlungsstrang gelingt es so dem Buch, ein zumeist urkomisches, doch auch facettenreiches Panorama des Lebensabends zu zeichnen, das in der Mannheimer Inszenierung lustig und berührend zugleich daherkommt.

Das simple Bühnenbild – bestehend aus einer verranzten Wohngarnitur mit Sesseln und einem Sofa, einigen alten Schirmlampen, Kissen und Hockern – passt ideal zum Stück und wird über dessen Verlauf auch nicht verändert. Es mimt ein Gefühl von Vernachlässigung und des ‘aus der Zeit Gefallen-Seins’ und reflektiert damit die Stellung der Protagonisten in der Gesellschaft: alt und auf das Abstellgleis gestellt, zur Aufbewahrung im Heim untergebracht und auf das Ende wartend. Auch das monotone Licht unterstreicht diese emotionale Einstellung, wird aber immer dann fetzig, dynamisch und bunt, wenn die Heimbewohner alleine sind und sich ihrem von der Gesellschaft vorgesehenen Schicksal entgegenstellen. Es gelingt dem Lichtdesign auch, melancholische Momente in Szene zu setzen, in denen die Figuren an die Endlichkeit ihres Lebens und das Alleinsein denken oder sich an die schöne Vergangenheit erinnern. Ohne weitere große Technik schaffen es Requisite und Licht so im Zusammenspiel, den Rahmen des Stücks solide zu bilden.

Die Besetzung ist erschreckend überzeugend: Jede Körperbewegung, jedes Zipperlein, ob rheumatische Gelenke, strauchelndes Humpeln, nervöses Blinzeln und Herumfummeln, Parkinson-Symptome wie Zittern und Kaubewegungen oder apathische Blicke ins Leere – Symptome, die in jedem Seniorenheim anzutreffen sind – wirken beim Ensemble wie eine in die Realität umgesetzte Charakterstudie. Dass es ihnen auf einer weiteren Ebene dann so überzeugend gelingt, diese Krankheitsbilder in ihre oftmals abenteuerlichen Choreographien und Witzszenen einzubauen, ist höchst beeindruckend. Das gesamte Schauspiel wirkt in der Überzogenheit der Situationen berührend authentisch – was die lustigen Szenen zum Schreien komisch macht und die melancholischen Szenen schwer zu verdauen. Besonders gefällt das Gruppenschauspiel der ikonischsten Tode aus Shakespeare-Stücken, in dem die Protagonisten ihr heroisch-theatralisches Ableben proben – etwas, was ihnen in der Realität des alternden Siechtums nicht vergönnt ist. Was die Darsteller an diesem Abend beim Publikum erreichen, ist nicht weniger als eine Achterbahn der Gefühle. Und dazu singen alle ausnahmslos auch noch sehr solide und souverän durch die unterschiedlichsten Genres von Klassik über Schlager, deutschen und englischen Pop der 70er und 90er bis Rock und Country.

Die größte Stimmgewalt beweist Susan Horn, die gleich mehrmals in ihrer Rolle als Schwester Rosa an die Endlichkeit des Lebens erinnert und dabei sichtlich Freude hat: In einer operettenhaften Cantata besingt sie stakkatisch mit Schlagworten das Thema ‘Sterben’ sehr bildreich – “Verrecken, Krepieren, Friedhof, Kiste, Krematorium”, und das ganze in einem schwarzen Trauerkleid. Boshaft-ironisch singt sie mit viel scheinbarem Mitgefühl “Graues Haar, zitternde Hände”, bei dem nicht nur die Senioren den Drang verspüren, Rosa den Garaus zu machen. Den musikalischen Höhepunkt des Abends kreiert Horn mit dem Gospel-Song “Eines Tags (werden wir besser ihn versteh’n)”, bei dem sie sämtliche stimmliche Register zieht und sich virtuos durch das Lied rifft, beltet und phrasiert. An ihrer lieblich scheinenden Darstellung als personifizierte Erinnerung an den Tod können sich die anderen Darsteller vortrefflich abarbeiten: Sie lehnen sich gegen das Schicksal in einer Art Revolution auf, nur um am Ende von Schwester Rosa doch wieder in die Schranken gewiesen zu werden: Der Tod ist unausweichlich.

Annette Potempa berührt als Frau Adelweiss in ihrem Duett “So bist du” mit Markus Weber in der Rolle ihres Gatten Herrn Grünberg, in dem sie sich gegenseitig die Treue bis über den Tod hinaus schwören. Zudem sorgt Potempa mit “All By Myself”, bei dem sich Frau Adelweiss gezwungen sieht, ihrer Endlichkeit ins Auge zu blicken, für einen Gänsehautmoment. Markus Weber wirkt von allen Darstellern in seiner Rolle am authentischsten – er verkörpert seine Figur bis in die kleinste Bewegung hinein. Nicht nur seine Zaubernummer im zweiten Akt ist herrlich lustig, sondern auch sein Striptease auf “Sex Bomb” zusammen mit den anderen Männern.

Den größten Gesangsanteil hat Matthias Eschli in der Rolle des apathischen Herrn Doblau inne, der von den Herren noch “der fitteste” zu sein scheint. Neben seinem Slapstick-Kampf mit Herrn Doblau – verkörpert von Markus Streubel – gefällt auch seine wehmütig stimmende Nummer “Green Green Grass of Home”. Streubel kreiert mit seiner Figur einen liebenswert schrulligen und verstreuten Professor-Typ mit einem besondern Hang zu seinem Goldfisch, zeigt aber auch seine fetzige Seite, beispielsweise in dem (für Altersheim-Verhältnisse) dynamischen Paartanz auf “Buona Sera Signorina”.

Als Frau Schwarzmann hat Jeannette Friedrich mit Sicherheit die komödiantisch ergiebigste Rolle des Stücks inne. Mit derb vulgären Flüchen und Beschimpfungen, garstig-höhnischem Gelächter und viel angestauter greisenhafter Sexualenergie sorgt sie für zahllose Lacher im Auditorium. Aber auch ihrer Rolle verleiht sie eine wehmütige Note, als sie mit abgefallener Beinprothese ein kluges Medley aus “Barbie Girl” und “Forever Young” umsetzt. In allen Liedern setzen die gerade nicht mit Solo-Parts beschäftigten Darsteller als mehrstimmiger Background-Chor ein. Sie bleiben stets im Hintergrund in ihren eigenen Rollen und Geschichten aktiv, sodass auch dann, wenn der Fokus gerade auf einer anderen Figur liegt, die Authentizität der Gruppe als Ganzem immer hervorragend gewahrt wird.

Ohne das differenzierte Schauspiel, das bei diesem Ensemble besonders eindrucksvoll gegeben ist, würden mit Sicherheit zahlreiche Facetten des Stückes nicht zutage treten und am Ende höchstens das Prädikat ‘besonders lustig’ als Résumé des Abends fallen. In Mannheim ist es aber viel mehr als das: Es ist emotional, authentisch, federleicht und bleiern schwer zugleich. Eine Hymne an das Leben.

 
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
KREATIVTEAM
InszenierungVolker Heymann
Musikalische LeitungDaniel Prandl
Ausstattung, ChoreografieCorinne Kraußer
 
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
CAST (AKTUELL)
EnsembleSusan Horn
Annette Potempa
Jeannette Friedrich
Markus Weber
Markus Streubel
Matthias Eschli
  
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
TERMINE
Sa, 28.09.2024 20:00Capitol, Mannheim
Fr, 13.12.2024 20:00Capitol, Mannheim
 
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
TERMINE (HISTORY)
Sa, 09.07.2022 20:00Capitol, Mannheimverlegt auf 21.7.22
Do, 21.07.2022 20:00Capitol, MannheimPremiere
So, 18.09.2022 19:00Capitol, Mannheim
▼ 10 weitere Termine einblenden (bis 01.07.2024) ▼
Zur Zeit steht die Funktion 'Leserbewertung' noch nicht (wieder) zur Verfügung. Wir arbeiten daran, dass das bald wieder möglich wird.
Overlay