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Das Volk erklingt und die Zuschauer schweigen gebannt. Die mit Spannung erwartete Tecklenburger Produktion von “Les Misérables” verzichtet auf Effekthascherei und setzt dafür ganz auf detaillierte Charakterausarbeitung und ausdrucksstarke Bilder Die sorgfältig ausgewählte Cast überzeugt auf ganzer Linie und bereitet den Zuschauern einen Abend voller großer Emotionen. Aber auch die kleinen, stillen Momente kommen nicht zu kurz. Das begeistert: Minutenlange Standing Ovations bereits zum Ende des ersten Akts sprechen für sich.
Für viele der treuen Tecklenburg-Anhänger dürfte es ein Déjà-Vu sein. Bereits 2006 pilgerten sie hinauf zur Freilichtbühne, um zu erleben, wie sich Victor Hugos Elenden im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und Unterdrückung auf die Barrikaden begaben. Schon die damalige Inszenierung befand sich auf künstlerisch hohem Niveau, doch die diesjährige Produktion legt die Messlatte nochmals um einiges höher. Sie zeigt, wie sehr sich die mittlerweile in ganz Deutschland für ihre professionellen Musical-Produktionen bekannte Freilichtbühne weiterentwickelt hat
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Was sich allerdings nicht geändert hat, sind die strengen Auflagen von Produzent Cameron Mackintosh, die fast jegliche Form künstlerischer Freiheit – wie etwa das Umstellen einiger Szenen, Straffungen, etc. – unmöglich machen. So musste sich auch Ulrich Wiggers‘ Ideenflut in dem engen Korsett starrer Vorgaben bewegen, die ihn an einigen Stellen nicht so schalten und walten ließen, wie er das vielleicht gewollt hätte. Also macht Wiggers aus der Not eine Tugend und tut das, was er bekanntermaßen am besten kann: Er konzentriert sich verstärkt auf die Personenregie und sorgt durch detaillierte Ausarbeitung der verschiedenen Charaktere dafür, dass die Zuschauer wirklich nachvollziehen können, was die einzelnen Figuren antreibt.
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Bei der liebevollen Ausgestaltung der einzelnen Szenen wird zudem ganz deutlich, dass Wiggers die Tecklenburger Freilichtbühne mittlerweile besser kennt als seine eigene Westentasche. Er weiß, wie er die einzelnen Ebenen am geschicktesten nutzen kann, wo er Chor, Statisterie und Ensemble optimal platziert und wann Licht am besten wirkt. Das ist aber auch kein Wunder, ist es doch seit 2013 schon das sechste Mal, dass der bekannte Regisseur in Tecklenburg das Ruder in der Hand hält.
Bereits der erste Blick auf das Bühnenbild verrät, dass Susanna Buller keine Kosten und Mühen gescheut hat, um den Zuschauern ein erstklassiges Musicalerlebnis zu bereiten. Die dreidimensionale Kulisse in der Bühnenmitte ist einem typischen Pariser Straßenzug nachempfunden. Die Häuser sind eng an eng und etwas versetzt gebaut, teilweise blättert der Putz ab. Hier spielt sich das bürgerliche Leben der armen Leute ab, die Tag für Tag um ihr Überleben kämpfen.
Eine zentrale Rolle spielt in diesem Alltag das Gefängnis, welches sich im Zentrum der Kulisse auf der untersten Ebene befindet. Über dem großen Torbogen rechts prangt ein überdimensionales, aus transparenten Elementen zusammengesetztes Kreuz, welches die Bedeutung des Glaubens innerhalb der Handlung repräsentiert: Es ist die Barmherzigkeit des Bischofs von Digne, die Valjeans Bekehrung zum rechtschaffenden, guten Menschen auslöst, und es ist auch der Glaube an Recht und Pflichterfüllung, der Javert dazu treibt, den Flüchtigen immer weiter zu jagen. Die Drehbühne ganz links muss sowohl als Sitz des Bischofs von Digne als auch als Hauptquartier der Studentenbewegung herhalten.
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Zwei riesige Karren, auf denen sich zu Barrikaden aufgetürmte Möbel befinden und die gerade eben durch den großen Torbogen rechts passen, werden für die Barrikaden-Szenen miteinander verbunden. Beeindruckend! Übrigens: Der Zuschauer sieht bei den Barrikaden-Szenen ausschließlich das, was sich dahinter abspielt, was die Szenen emotional verdichtet.
Auch die Kostüme von Karin Alberti fügen sich perfekt ins Bild ein und spiegeln den jeweiligen sozialen Status der Charaktere auf einem Blick wieder. Ein besonderer Blickfang sind die farbenfrohen Kostüme der Thénardiers.
Choreographin Kati Heidebrecht hat hier deutlich weniger zu tun als in anderen Produktionen, nutzt aber die wenigen Gelegenheiten optimal und setzt gekonnt Akzente, z.B. mit der energiegeladenen Choreographie zu “Herr im Haus” oder der gelungenen gestischen Umsetzung der Texte beim “Lied des Volkes”.
Wiggers reizt alle Möglichkeiten des Lichtdesigns aus, um die einzelnen Elemente der Handlung effektvoll in Szene zu setzen. Wenn sich Valjean, den bewusstlosen Marius auf den Schultern, plötzlich Javert gegenübersieht, der wie ein Racheengel aus dem gleißenden Lichtkegel tritt, dann hält auch das Auditorium für einen Moment den Atem an. Bei Javerts Selbstmord begleitet das Licht den Inspektor bei seinem Aufstieg bis zum großen Kreuz und erstrahlt bei der Textzeile “Wird den Himmel er schau‘n” am intensivsten, bis Javert sich schließlich davorstellt, eine Pistole zückt und sich erschießt. Dann fällt er rücklings in die Dunkelheit. Ein letztes Beispiel für das stimmige Lichtdesign ist die finale Szene. Gegenlicht, das durch die transparenten Vorhänge von Valjeans Sterbezimmer fällt, scheint den Schleier zum Jenseits immer mehr aufzuheben und enthüllt Fantine, die im Augenblick von Valjeans Tod diesen Schleier durchbricht und Valjean mit sich nimmt, während Marius und Cosette vor dem nun leeren Sessel, in dem Valjean soeben noch saß, weinend betrauern. Ein starkes Bild mit einer emotionalen Kraft, dem sich wohl niemand entziehen kann.
Der musikalische Leiter Tjaard Kirsch führt sein Orchester gewohnt souverän durch die Partitur. Sound und Abmischung sind insgesamt gut, obwohl an einigen wenigen Stellen Mikros leider etwas spät aufgedreht werden – das wird sich im Verlauf der Spielzeit hoffentlich noch regulieren.
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Mit Patrick Stanke hat man einen alten Bekannten engagiert, der in Tecklenburg schon zum Erfolg zahlreicher Produktionen (u.a. “Mozart”, “Jesus Christ Superstar”, “3 Musketiere”) beigetragen hat. Stanke ist ein Publikumsliebling, der mit seiner authentischen Darstellung überzeugen kann und vor allem durch sein fesselndes Schauspiel in den Bann zieht. Sein “Wer bin ich” zählt zu einem der zahlreichen Gänsehaut-Momenten der Show. Stanke zeigt in der Entwicklung Valjeans vom verbitterten Sträfling bis hin zum bekehrten, moralisch guten Menschen die ganze Bandbreite seines künstlerischen Könnens.
Kevin Tarte verkörpert Valjeans Gegenspieler Javert mit großartiger Bühnenpräsenz, differenziertem Schauspiel und starkem Gesang. Tarte schafft es zu verdeutlichen, dass es nicht etwa Gefühlskälte ist, die Javert dazu bewegt, über Jahrzehnte sein Katz-und Maus-Spiel mit Valjean zu treiben, sondern vielmehr ein stark ausgeprägter Glaube an das Recht und ein tief sitzendes Pflichtbewusstsein. Als schließlich die Grundfesten seiner Überzeugung erschüttert werden und er sich zutiefst verwirrt zeigt, nachdem Valjean ihm sein Leben schenkt – ein Highlight in der Interaktion Stanke-Tarte, weil die beiden Darsteller eben auch viel Emotion non-verbal vermitteln – mag man fast Mitleid mit ihm haben.
Die berühmte “Konfrontation” verdeutlicht schließlich einmal mehr, dass die beiden Hauptdarsteller sich optimal ergänzen, auch wenn sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Das zeigt sich gleich auf diversen Ebenen: Stanke singt mit Pop-Ansatz, während Tarte den klassischen Ansatz wählt; der eine ist rollenbedingt emotionaler, während der andere distanzierter wirkt. Beide machen passioniert deutlich: Weder Valjean noch Javert sind bereit, auch nur einen Zentimeter von ihren jeweiligen Überzeugungen abzuweichen.
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Auch mit dem Rest der Cast hat man einen Glücksgriff getan. Milica Jovanovic bleibt als Fantine durch ihr ausdrucksstarkes Schauspiel im Gedächtnis und rührt mit “Ich hab‘ geträumt vor langer Zeit” zu Tränen. Die relativ plastisch dargestellte Szene, in der sich Fantine zum ersten Mal einen Freier hingeben muss, ekelt an und versinnbildlicht Fantines endgültigen Abstieg. Nein, das Leben ist wirklich kein Zuckerschlecken in dieser bigotten Pariser Gesellschaft! Daniela Braun spielt eine quirlige, mädchenhaft-bezaubernde Cosette, zu der Florian Peters als begeisterungsfähiger, zunächst noch jugendlich naiver Marius perfekt passt. Da wird selbst das Schmacht-Duett “Mein Herz ruft nach Dir” erträglich.
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Einen imposanten Eindruck – stimmlich wie darstellerisch– hinterlässt David Jakobs als charismatischer Studentenanführer Enjolras. Wenn er als letzter Überlebender der Barrikadenkämpfer, provokativ und nicht zum Aufgeben bereit die rote Fahne schwingt, bevor auch ihn eine Kugel niederstreckt, bleibt kein Auge trocken.
Als Thénardiers laufen Bettina Meske und Jens Janke zu Höchstform auf und sorgen mit viel komödiantischen Talent für Heiterkeit und ausgelassene Stimmung im Publikum. Meske wirkt allerdings in der Szene, in der sie erstmals mit der jungen Cosette agiert, ein wenig zu eindimensional böse, während Janke ab und an Gefahr läuft, zu sehr ins Clownhafte abzudriften.
Lasarah Sattler als Eponine ist vielleicht die Entdeckung des Abends. Die junge Darstellerin ist ein echter Typ, spielt wahnsinnig expressiv und phrasiert wunderschön. Es zerreißt einem fast das Herz, wenn sie aus dem Schatten heraus dem Rendezvous zwischen Marius und Cosette beiwohnt und all ihre Träume zerplatzen sieht. Auch der kleine Gavroche (Jonas Kirsch) stiehlt alle Herzen.
Die Hauptcast wird durch ein starkes Ensemble getragen, das eine beeindruckende Leistung zeigt. Nicht unerwähnt bleiben darf Florian Soyka, der als barmherziger Bischof von Digne einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Auch Juliane Bischoff (u.a. als erste Fabrikarbeiterin), Céline Vogt (u.a. Fabrikarbeiterin, Hure), Robert Meyer (Grantaire) und Florian Albers (Montparnasse, Prouvaire) stechen hervor.
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Die Massenszenen sind – wie eigentlich immer in Tecklenburg – großes Kino. Ob bei “Am Ende vom Tag”, “Leichte Mädchen” oder “Morgen schon”: Ensemble, Chor und die Statisterie der Freilichtbühne machen diese Szenen zu einem visuellen und auditiven Genuss. Bei “Morgen schon” symbolisieren rote Tücher sowohl die Revolution als auch das baldige Blutvergießen.
Wiggers setzt Chor und Statisterie gemäßigt ein und macht nicht den Fehler, Szenen damit zu überfrachten. Denn so sehr “Les Misérables” auch von den großen Szenen lebt, so sehr braucht es die stillen Momente, in denen es dem Publikum möglich wird, sich ganz auf die einzelnen Charaktere zu konzentrieren. Florian Peters’ “Dunkles Schweigen an den Tischen”, Kevin Tartes “Sterne” oder Lasarah Sattlers gefühlvolle Interpretation von “Nur für mich” kommen auch deshalb so intensiv beim Publikum an, weil eben nur eine Figur auf der Bühne steht, deren innerer Konflikt und Isoliertheit in diesem Moment ganz klar wird. Es braucht eben nicht immer dutzende Personen auf der Bühne. Alle Stars der Tecklenburger Produktion haben genug Präsenz, um sie alleine zu füllen.
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Ulrich Wiggers Inszenierung bietet die Gelegenheit, sich näher mit den Figuren auseinanderzusetzen und sie vielleicht neu zu entdecken. Wer große Emotionen erleben will, ist hier gut aufgehoben.
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KREATIVTEAM |
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Regie | Ulrich Wiggers |
Musikalische Leitung | Tjaard Kirsch |
Choreografie | Kati Heidebrecht |
Kostüme | Karin Alberti |
Bühnenbild | Susanna Buller |
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CAST (AKTUELL) |
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Jean Valjean | Patrick Stanke |
Javert | Kevin Tarte Robert Meyer [04.08., 05.08., 15.09.] |
Fantine | Milica Jovanovic |
Thénardier | Jens Janke Ulrich Wiggers [09.08., 10.08.] |
Madame Thénardier | Bettina Meske |
Marius | Florian Peters |
Cosette | Daniela Braun |
Eponine | Lasarah Sattler |
Enjolras | David Jakobs |
Bischof von Digne / Courfeyrac | Florian Soyka |
Bamatabois | Gerben Grimmius |
Brujon / Joly | Mathias Meffert |
Babet | Fin Holzwart |
Claquesous / Lesgles | Jan Altenbockum |
Montparnasse / Prouvaire | Florian Albers |
Combeferre | Benjamin Witthoff |
Feuilly | Nicolai Schwab |
Grantaire | Robert Meyer |
Seeleute / Polizisten / Studenten | Andrew Hill Michael Thurner |
Erste Fabrikarbeiterin / Hairlady | Juliane Bischoff |
Bagatelle Lady | Jennifer Kohl |
Fabrikarbeiterinnen / Huren / Gäste | Alexandra Hoffmann Céline Vogt Dörte Niedermeier Joana Henrique Eva Kewer Sophie Blümel Esther Larissa Lach |
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