Ein wirklich unterhaltsamer Abend mit berührender Geschichte, eingängiger Musik, bunt-glitzernden Kostümen und ansprechenden Choreographien steht den Besuchern von “Kinky Boots” bevor. Das ist rundherum gutes Entertainment gänzlich abseits vom großen technischen Brimborium, das Musicals hierzulande immer als Event besonderer Güte auszeichnen soll – doch ein Besuch lohnt sich dennoch, oder vielleicht auch gerade deswegen. Da ab Herbst 2018 laut einer Casting-Ausschreibung bereits “Ghost – Das Musical” für das Operettenhaus vorgesehen ist, muss “Kinky Boots” deutlich vor Ende des ersten Spieljahres seine Pforten in Hamburg schließen.
Die Story handelt von Charlie, der eine kurz vor dem Ruin stehende Schuhfabrik erbt und eines Tages zufällig über Drag Queen Lola und ihr Problem, gut gemachtes sowie glamouröses Schuhwerk in Herrengröße zu finden, stolpert. Daraus entsteht eine Zusammenarbeit, die auf viele Widerstände stößt und alle Beteiligten über ihre bisherigen Grenzen gehen lässt.
Ein Pluspunkt der Show ist das wohl durchdachte Buch von Harvey Fierstein. Die geschickt aufgebaute erste große Nummer zum Beispiel beinhaltet mehrere kleine, eingestreute Szenen, mit denen die Konflikte der beiden Hauptpersonen knapp, aber prägnant einführt werden: Charlies Versuch, sowohl die Erwartungen seines Vaters als auch die seiner Freundin zu erfüllen, sowie Lolas schwieriges Verhältnis zum eigenen Vater, der das Faible seines Sohns für Frauenkleidung nie verstehen konnte. Im weiteren Verlauf bietet die Show eine ansprechende Mischung aus glamourösen Shownummern und zu Herzen gehenden, geradezu intimen Szenen mit Charlie und Lola. Der dramatische Moment im zweiten Akt, in dem Charlie unter all dem Druck, seine Firma vor dem Untergang zu bewahren, fast zusammenbricht und sich mit nahezu all seinen Kollegen und Freunden – inklusive Lola – überwirft, kommt zwar unglaubwürdig dramatisch daher, doch das ist nur ein kleines Zwischentief in der ansonsten mitreißenden Inszenierung.
Cyndi Laupers poppiger Score, der von elf Musikern unter der Leitung von Sebastian de Domenico mit viel Drive präsentiert wird, gibt das Wechselbad der Gefühle, das die Hauptpersonen auf der Bühne erleben, gut wieder.
Das Bühnenbild ist ansprechend und durchaus ausreichend, im Vergleich zu anderen Großproduktionen aber relativ simpel gehalten. Der Hintergrund der Schuhfabrik bleibt fast das gesamte Stück über identisch; im Vordergrund verändern sich die Versatzstücke reibungslos von der Fabrik über einen Boxring bis zur Bar, in der Lola ihre Star-Auftritte absolviert.
Jerry Mitchell, der für Regie und Choreografie des Broadway-Klons verantwortlich zeichnet, hat viel Wert darauf gelegt, dass das Stück Bodenhaftung bewahrt und sich nicht in schillerndem Fummel und sexy Overknee-Stiefeln verliert. Dafür sorgen nicht nur die beiden vielschichtigen Hauptcharaktere, sondern auch die Belegschaft der Schuhfabrik, die aus ganz alltäglichen Figuren besteht und im Laufe des Stückes zu einer wahren Gemeinschaft zusammenwächst.
Wenn es an dieser Show einen Must-See-Faktor gibt, dann ist es Gino Emnes, der das Publikum als Drag Queen Lola mit seiner bodybuilding-gestählten, maskulinen Figur im knappen Fummel und fabelhafter, leicht rauchiger Stimme begeistern kann. Gerade auch der Wechsel zum unsicheren Simon, der sich hinter Lolas Fassade verbirgt, gelingt beeindruckend und berührt die Zuschauer. Dagegen hat es Dominik Hees in der vergleichsweise spießigen Rolle des Charlie schon fast schwer. Doch mit hohem Sympathiefaktor stellt er die Entwicklung des von existentiellen Sorgen geplagten Fabrikbesitzers, der lernen muss über seinen Schatten und seine Vorurteile zu springen, glaubhaft dar.
Die zwei Herren beherrschen den Abend. Darüber hinaus macht Jeannine Michele Wacker das Beste aus der arg überzeichneten Rolle der Fabrikangestellten Lauren, die mit ihren Gefühlen für Charlie zu kämpfen hat. Sie gibt in ihrem Solo-Song “Die Liste falscher Kerle” dem Affen ordentlich Zucker, um nachhaltig auf sich aufmerksam zu machen. Auch Benjamin Eberling hat als Vorarbeiter Don, der sich anfangs sehr dagegen wehrt mit einer Drag Queen zusammen zu arbeiten, mehrere starke Momente auf der Bühne.
Mit der ersten gesungenen Zeile “Wenn du glaubst, Schönheit liegt in Frühlingsknospen” beginnt der deutsche Text des Eröffnungsliedes ausgesprochen poetisch. Und selbst wenn die Übersetzung von “The Most Beautiful Thing in the World” zu “Das wohl herrlichste Wunder der Welt” doch ein wenig übertrieben erscheint und auch Lolas beklemmender Song “I am Not My Fathers Son” mit “Ich war nie dieser Sohn” im Deutschen etwas verliert, ist Kevin Schröders (Songtexte) und Ruth Denys (Dialoge) Arbeit zumeist als flüssig und gelungen zu bezeichnen.
Gar keine Frage, dass das Stück wunderbar auf die Reeperbahn passt. Hier ist es mal nicht die große Technikschlacht im Bühnenbild, die die Zuschauer staunen lässt. Das gut aufgebaute Buch, der Glamour-Faktor der Drag Queens (sowie auch gerade der Blick hinter die Maskerade) und vor allem die wirklich gelungene Umsetzung durch den gesamten Cast, der ein angenehmes “Menscheln” auf der Bühne zulässt, machen das Musical sehenswert.
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