Mit enormem Aufwand bringt das Staatstheater Braunschweig das Broadway-Musical “Ragtime” zur deutschen Erstaufführung. Und das Ergebnis ist schlichtweg großartig. Die dreistündige Aufführung vereint in einer kurzweiligen Inszenierung wunderschöne Melodien und eine gehaltvolle Geschichte.
Amerika am Beginn des 20. Jahrhunderts als Schmelztiegel der Kulturen: Die Geschichte beginnt mit einer weißen Oberschicht-Familie ohne Namen – sie werden nur Vater, Mutter, Großvater usw. genannt. Vater begibt sich auf eine lange Expedition zum Nordpol und Mutter, die als Hausfrau bisher Entscheidungen immer ihrem Gatten überlassen hat, muss plötzlich damit klarkommen, dass vor ihrem Haus ein schwarzes Baby ausgesetzt wurde. Sie übernimmt Verantwortung für Sarah, die bald ausfindig gemachte Mutter des Kindes, und öffnet so auch dem Musiker Coalhouse, dem Kindesvater, von dem Sarah sich wegen Untreue getrennt hat, ihr Haus. Die beiden kommen wieder zusammen, doch der Rassismus sorgt bald für Schatten auf ihrem Glück und zerstört es schließlich, so dass Coalhouse das Recht in die eigene Hand nimmt und zum Märtyrer wird… Und dann gibt es da noch Tateh, der mit seiner Tochter aus Osteuropa nach Amerika ausgewandert ist, um hier sein Glück zu machen. Im Laufe des ersten Akts wird seine Lage immer verzweifelter, letztendlich weiß er jedoch seine Talente zu nutzen. Wenn er im zweiten Akt die weiße Familie, insbesondere Mutter, näher kennenlernt, verbandeln sich ihre Lebenswege… Und als wäre das alles noch nicht genug Handlung, treten noch mehrere real existierende Personen als Nebenfiguren auf – wie die Bürgerrechtlerin Emma Goldman oder der Zauberkünstler Harry Houdini – die immer wieder den drei im Zentrum stehenden fiktiven Familien begegnen.
“Da hat der Kochheim ja schon am Anfang der Spielzeit den halben Etat ausgegeben” ist in der Pause als Meinung einer Zuschauerin zu hören. Und tatsächlich passiert unglaublich viel auf der Bühne, um die spannende und vielfältige Geschichte in ca. drei Stunden flüssig und ohne Längen zu erzählen. Regisseur Philipp Kochheim kann für die große Inszenierung, die bis ins Kleinste durchdacht ist, auf ein sehr homogen zusammengecastetes Ensemble mit vielen Gästen zurückgreifen, das von Mathilde Grebot üppig und sehr authentisch eingekleidet worden ist. Choreographin Kati Farkas bevölkert die Bühne in den Ensemblenummern vorbildlich, jede Gruppe bekommt dabei ihren eigenen passenden Bewegungsstil. Wie sie sich gerade in der Eröffnungsnummer nach und nach vermischen, aber dabei in ihren jeweiligen Mustern bleiben, ist toll anzusehen.
Thomas Gruber hat die tiefe Bühne an allen drei Seiten mit einer edel wirkenden Holzvertäfelung ausgestattet. In die hintere Wand ist dabei noch ein Guckkasten integriert, vor dem zeitweise ein Vorhang heruntergelassen und für Projektionen oder kleine Filme genutzt wird. Für den einzigen immer wiederkehrenden Spielort – das Wohnzimmer der weißen Familie – fährt in der Mitte der Bühne eine Stellwand als hintere Begrenzung des Zimmers herunter. Wenn sie nach der Szene wieder hochfährt, wartet auf den Zuschauer dahinter meist eine neue Überraschung: mal Coalhouses Automobil, mal eine Zuschauertribüne im Baseballstadion samt zugehörigem riesigen Werbeplakat. Immer wieder werden dazu vom Ensemble Möbelstücke oder Requisiten auf- und abgetragen, die zügig und effektiv für atmosphärisch ausgestattete, dabei aber nie überladen wirkende Szenerien sorgen.
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Zudem kann man dem Staatstheater zu dem Ensemble nur gratulieren. Sie alle machen ihre Sache großartig, sowohl gesanglich als auch schauspielerisch: Alvin Le-Bass legt Coalhouse Walker im ersten Akt noch relativ zurückhaltend an, doch umso imposanter wirkt die Figur in den kämpferischen Szenen des zweiten Akts. Monika Maria Staszak gelingt die innere Entwicklung von Mutter, die nach außen hin immer die Contenance wahrt, aber dabei zu einer Frau reift, die ihre Bedürfnisse und ihre Meinung deutlich zu machen wagt, wunderbar. Das eindringlichste Porträt liefert aber Randy Diamond ab, der als Tateh im Laufe des Abends scheinbar mühelos die verschiedensten Emotionen durchläuft. Wenn ihm nach mehreren Enttäuschungen seine Tochter, für die er so viel getan hat, von einer Fürsorgebeamtin abgenommen werden soll, und er seine ganze Verzweiflung und seinen Hass auf Amerika und alles, was ihm dort widerfahren ist, herausschreit, dann ist das ein wahrer Gänsehautmoment. Und dann sind da noch Patricia Meeden, die mit in allen Lagen großer Stimme eine äußerst charmante Sarah abgibt, oder Markus Schneider, der als Mutters jüngerer Bruder auf der Suche nach seinem Platz im Leben ist und diese Unruhe vortrefflich darstellt. Auch das tolle Harlem-Ensemble, das die Gospel-Nummer “Till We Reach That Day” zu einem weiteren Gänsehautmoment macht, soll nicht unerwähnt bleiben… und so könnte die Aufzählung der vielen richtig guten Darsteller weitergehen.
Auch aus dem Orchestergraben ist nur Positives zu berichten. Die vielfältige und abwechslungsreiche Partitur des “Rocky”-Komponisten Stephen Flaherty, bei der sich wirklich ein Ohrwurm an den nächsten reiht, ist bei Georg Menskes und dem Braunschweiger Staatsorchester in besten Händen. Mit hörbar viel Spaß sind die Damen und Herren, insbesondere die kecken Bläser bei den Ragtime-Nummern, bei der Sache. Kleine Einschränkung gibt es von Seiten der Tontechnik: Bei den Ensemblenummern, in denen die verschiedenen Gruppen zeitweise regelrecht gegeneinander ansingen, passt die Abstimmung noch nicht immer, doch das dürfte sich im Laufe der Spielzeit einspielen.
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Der einzige wirkliche Kritikpunkt ist die fehlende deutsche Übersetzung. Die Dialoge werden auf deutsch gespielt, die Lieder auf englisch gesungen. Es gibt deutsche Übertitel – die Blicke dorthin lenken gerade aus den vorderen Reihen aber doch sehr von der spannenden Handlung auf der Bühne ab. Da das Stück fast durchkomponiert ist und somit die meisten Lieder auch handlungstragend sind, wäre ein deutscher Text doch sehr wünschenswert.
Denn, auch wenn dieses eine sehr aufwändige Inszenierung ist, die sich sicher nicht jedes Theater leisten kann oder will, ist das Material einfach zu gut, als dass es nach dieser Deutschen Erstaufführung in der Schublade verstauben dürfte. Die lang anhaltenden stehenden Ovationen am Premierenabend sprechen da für sich.
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