Lange Haare neben Seitenscheitel, Schlaghosen neben Petticoat und Bügelfalte – die Darmstädter Inszenierung des Sixties-Klassikers “Hair” will ein komplettes Bild der amerikanischen Gesellschaft der 1960er-Jahre zeichnen und bietet gute Einfälle, verliert dabei allerdings die Figuren aus den Augen. Auch das Feeling bleibt auf der Strecke.
Eine angespannte Stimmung erwartet den Zuschauer schon beim Eintritt in den Theatersaal. Auf der Bühne stehen junge Menschen in 60er-Jahre-Minikleidchen, Pullundern und College-Jacken. Gebannt blicken sie auf die sich drehende Tombola, wo die Geburtstage derjenigen gezogen werden, die sich für den Kriegsdienst melden müssen. Auch die Zuschauer, deren Geburtstage gezogen werden, müssen sich ihren Stempel abholen. Es ist ein starker Einstieg, der in seiner bieder-braven Bedrohlichkeit einen völlig neuen Zugang bietet, wenn das schleppend-scheppernde Intro von “Aquarius” erschallt.
Bevor Blumenkinder, Kommunen und Happenings auf die Bühne kommen, zeigt Regisseur Sam Brown das Spießbürgertum, aus dem sich die Hippiebewegung erheben musste. Wenn George Berger (Rupert Markthaler) mit Wickelrock und hochhackigen Pumps statt Schlaghosen auf die Bühne kommt, ist er eine Figur, die für unsere heutigen Sehgewohnheiten ähnlich bizarr anmutet wie die Hippies für ihre angepassten Zeitgenossen. Gleich in der zweiten Nummer “Donna” darf er eine Südstaaten-Dinnerparty sprengen. Debütantinnen reißen sich unter seinem Einfluss die Kleider vom Leib, erhalten mit einer LSD-Tablette die höheren Weihen der Bewusstseinserweiterung und schlüpfen in Fransenjacken, Schlagjeans und geblümte Sommerkleider. Der Tribe entsteht aus der Jugend des Bürgertums. Sam Brown verortet “Hair” in der Mitte der Gesellschaft der Vereinigten Staaten der 1960er und fasst damit den Rahmen bedeutend weiter als die Vielzahl der anderen Produktionen. Wenn die Hippies die Prinzipien ihrer Philosophie darlegen – etwa in “Hair” oder “I Got Life” – inszeniert Brown sie in einer biederen Fernsehshow. Ansonsten spielt das Stück in der Kulisse (Ausstattung: Annemarie Woods) eines sich drehenden, teilbaren Doppelhauses, das wahlweise als besetzter Wohnblock, heimeliges Wohnidyll der Familie Bukowski oder als Schlafraum der Tribe-Kommune, genutzt wird.
Die Fragen, die Brown aufwirft, sind legitim und spannend. Denn nur zu oft wird “Hair” auf das hedonistische Lebensgefühl der Jugendbewegung reduziert. Das soziale Umfeld, das die Verfasser Rado und Ragni etwa mit Claudes Eltern, Polizisten oder der Upperclass thematisieren, arbeitet der Regisseur deutlich raus. Doch leider bleibt damit dann doch ein wichtiger Aspekt des Stückes auf der Strecke: die Identifikation mit den Protagonisten. Die essentiellen Ideen dieser Epoche – freie Liebe, Umweltbewusstsein, Emanzipation, die Auseinandersetzung mit Rassismus und Pazifismus – tauchen zwar in den Liedtexten auf, sind aber in Browns Inszenierung nicht wirklich erlebbar.
Rupert Markthaler spielt einen unglaublich charismatischen George Berger, dem man den Ver- und Anführer durchweg abnimmt. Gesanglich würde man sich zwar noch ein bisschen mehr Raffinesse wünschen, aber seine gesamte Leistung ist wirklich großartig. Julian Culemann als Claude Bukowski hat es nicht einfach, neben ihm zu bestehen. Zwar ist Culemanns Leistung durchweg solide, schafft es aber auch nicht, einen vom Hocker zu reißen. Während Nedime Ince [Nedime Ostheimer] als Sheila eine gesanglich absolut glaubwürdige, gefühlvolle Darbietung liefert, wird aus ihrem Spiel nicht klar, worauf ihre Figur hinauswill. Sheila wird dadurch zu einer etwas langweiligen Blaupause für den frühen politischen Feminismus.
Die schauspielerisch und gesanglich überzeugendsten Leistungen des Abends bieten Lisa Huk als schwangere Jeannie und Martina Lechner als verträumte Crissy. Huk erinnert mit ihrer rauchigen Stimme und ihrem tantrischen Spiel an eine frühe Nina Hagen, Lechner sorgt mit ihrem schlichten, aber unheimlich gefühlvollen und perfekt intonierten “Frank Mills” gegen Ende des ersten Akts für den ersten wirklichen Szenenapplaus des Abends.
Erst beim finalen “Let the Sunshine In” scheint es, als habe das Ensemble in Darmstadt seine Mitte gefunden. Wenn Berger und Sheila die Flagge für den in Vietnam gefallenen Claude entgegennehmen, dann herrscht letztlich die emotionale Spannung auf der Bühne, die man den ganzen Abend vermisst hat. Denn bei allen gesellschaftspolitischen Querverweisen und sozialen Studien – dass “Hair” bis heute seine Zuschauer in den Bann zieht, liegt nicht zuletzt daran, dass seine Figuren in ihrem Idealismus real und leidenschaftlich erscheinen. Ohne diese Leidenschaft bleibt Browns Inszenierung leider auf dem emotionalen Level eines Geschichte-LK-Quellentexts.
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