“Next to Normal” ist nicht nur eines der relevantesten Musicals der letzten Jahre, sicherlich erlebt es im deutschsprachigen Raum derzeit auch seine spannendste Phase. Bereits drei Monate nach der deutschsprachigen Erstaufführung im Stadttheater Fürth präsentiert das Landestheater Linz nun die zweite deutschsprachige Produktion des preisgekrönten Stückes von Tom Kitt (Musik) und Brian Yorkey (Buch und Texte), womit es den Qualitätsanspruch der neu gegründeten Musicalsparte des Hauses erneut unterstreicht.
Interessant ist der aktuelle Zeitraum vor allem deshalb, da grundlegende Ausdeutungs-möglichkeiten eines neuen Stückes in aller Regel den jeweils ersten Inszenierungen vorbehalten sind. Diese österreichische Erstaufführung zeichnet sich jedoch darüber hinaus noch durch die Besonderheit aus, dass sie mit einer relativ eigenständigen Übersetzung aufwarten kann. Aufgrund der zeitlichen Nähe der beiden Premierentermine erfolgte die Einrichtung des Stückes für die Linzer Aufführung durch Roman Hinze nicht auf Grundlage der endgültigen Fürther Fassung, sondern vielmehr auf einer Vorfassung der Übersetzung von Titus Hoffmann. Diese wurde jedoch bis zum Premierentermin im Oktober 2013 von Hoffmann selbst noch überarbeitet, während Hinze aus nachvollziehbaren Gründen mit der Arbeit an dem Stück bereits viel früher beginnen musste. So steckt in Linz in der deutschen Übersetzung von Titus Hoffmann auch ein erheblicher Anteil von Roman Hinze – ein außergewöhnlicher und überdies sehr interessanter Umstand, da in vielerlei Hinsicht die unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten für die Übersetzung des dicht gereimten Stückes nachvollziehbar werden. Auch hinsichtlich der Silbenbetonung und Endreime geht Hinze oft andere Wege als Hoffmann – im Ergebnis wird in Linz eine inhaltlich wie formal äußerst gelungene Übersetzungsarbeit zu Gehör gebracht, die zudem auf die unglücklichen “tut”-Konstrukte aus Hoffmanns Übersetzung verzichtet.
Auch in optischer Hinsicht unterscheiden sich die beiden deutschsprachigen Inszenierungen voneinander – in Linz herrscht das von der Original-Produktion geprägte dunkle Erscheinungsbild vor, das die existenzialistische Dimension des Stückes zum Ausdruck bringt. Wie eigentlich bei jedem Bühnenkonzept zu dieser Show bedient man sich auch hier einer Konstruktion mit mehreren Räumen auf unterschiedlichen Ebenen, um die für das Stück notwenigen Parallel-Spielebenen entstehen zu lassen. Im Gegensatz zur symmetrisch gehaltenen Anordnung der Spielflächen in Fürth arbeitet das Linzer Bühnenbild von Sanne Danz mit einer perspektivisch vertrackten Anordnung von Treppen, die das Innenleben Dianas widerspiegeln und auch mal gerne ins Leere führen, so etwa bei dem Song “Komm mit mir”. Eine sehr künstlerische Konzeption für die Einrichtung des Schauspielhauses an der Promenade, in das dieses ernsthafte Stück sehr gut passt. Leider scheint die dort untergebrachte technische Infrastruktur mit dem Rockmusical eher überfordert, wie einige Probleme mit der Tontechnik zeigen. Zudem präsentiert sich die 6-köpfige Band unter der musikalischen Leitung von Kai Tietje nicht immer sattelfest und das Sounddesign klingt ein wenig synthetisch verkünstelt, wodurch die Dynamik der Partitur nicht unvermittelt zum Tragen kommt.
Auf irgendwelche Regie-Mätzchen verzichtet Matthias Davids vollends – seine durchdachte und stringente Inszenierung nimmt das Stück und den Stoff sehr ernst und zielt auf die Umsetzung der Vorgaben des Originals, was man bei einigen anderen Arbeiten von ihm teilweise schon anders erlebt hat. Gleichwohl präsentiert er einige neue und wirkmächtige Ideen – so inszeniert er etwa Dianas Elektrokrampftherapie-Behandlung bei “Wär’ ich nur da” als psychedelischen Albtraum mit viel Hall und elektronisch verzerrten Stimmen. Man merkt Davids’ Inszenierungen stets an, welchen Figuren er das meiste Interesse entgegenbringt – in diesem Fall ist es natürlich Diana, der sein größtes Augenmerk gilt. Diese wird in Linz von Kristin Hölck verkörpert, die gesanglich die stilistische Vielfalt ihrer Partie mühelos meistert, wie sie mit eindringlichen Interpretationen solch unterschiedlicher Songs wie “Mir fehl’n die Berge” oder “Was weißt du?” eindrucksvoll unter Beweis stellt. Ihr Spiel bietet ein nahezu durchweg stimmiges und beeindruckendes Rollenprofil, wenngleich sie in einem Anflug von darstellerischem Furor in der “Das ist doch wie im Kino”-Szene ein wenig übers Ziel hinausschießt: Hier spielt sie Diana als entfesselte Irre, was sie aber nicht ist – sie hat in dieser Situation nur Angst, wie eine solche behandelt zu werden. Es ist aber letztlich einzig die Darbietung von Kristin Hölck, die aus dieser Inszenierung nachwirkt – die Personenregie für die anderen Figuren lässt einige Wünsche offen. Reinwald Kranner als Dan, Oliver Liebl als Gabe, Lisa Antoni als Natalie und Rob Pelzer als Dr. Fine und Dr. Madden agieren zwar rollendeckend, überzeugen allerdings nicht vollends, was Interpretationsschärfe und Rollenausgestaltung anbetrifft: Dan könnte tragischer dargestellt werden, Gabe differenzierter, Natalie pointierter und die beiden Therapeuten ein wenig verbindlicher. Den Punkt jedoch trifft Christian Manuel Oliveira, als Mitglied des Schauspielensembles der einzige Gast im Musicalensemble, der zudem auch gesanglich zu überzeugen vermag. Bei ihm stellt sich jedoch aufgrund seines Alters das Problem, dass der Zuschauer schon ein gehöriges Maß an Abstraktionsvermögen mitbringen muss, um ihm die Rolle des jugendlichen Henry abzunehmen.
Nachdem Diana Dan verlassen hat, lauert Gabe wie ein Raubtier im Bühnenhintergrund und beobachtet Dan aus dem Dunkeln heraus, dazu bereit, gleich sein nächstes Opfer anzuspringen. In diesem Moment wird klar, dass die Familie dieses Ungeheuer aus dem Abgrund der Seele so schnell nicht wieder loswerden wird. Ein beeindruckendes Bild und abermals eine schöne Idee von Davids, die zeigt, welch hohes Maß an Deutungspotential noch in diesem Stück steckt – auf weitere Inszenierungen von “Next to Normal” darf man gespannt sein.
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