Sie ist in der Szene schon lange keine Unbekannte mehr: Sidonie Smith ist gebürtige US-Amerikanerin aus Florida mit jamaikanischen Wurzeln und seit Jahren auf Musicalbühnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz aktiv. Zu ihren größten Rollen gehören Deloris Van Cartier in “Sister Act”, Felicia Farrell in der deutschsprachigen Uraufführung von “Memphis” oder Rachel Marron in “The Bodyguard”. In einer ihrer Paraderollen, als Maria Magdalena in “Jesus Christ Superstar”, stand sie jüngst bei den Bad Hersfelder Festspielen wieder auf der Bühne.
Wir haben Sidonie nach ihrer bewegenden Performance zu einem persönlichen Gespräch getroffen. Die sympathische Sängerin hat mit uns über ihren ungewöhnlichen Werdegang und über ihr Leben abseits des Musicalberufes gesprochen – und auch über das, was sie bewegt und was ihr wichtig ist. Wir hatten ursprünglich nur ein Kurzinterview geplant, aber Sidonie hatte so viel Interessantes und auch Inspirierendes zu erzählen, das wir euch nicht vorenthalten wollen.
Sprechen wir zunächst über deine letzte Rolle der Maria Magdalena, die du schon mehrmals in unterschiedlichen Inszenierungen verkörpert hast. Was ist das Besondere für dich an dieser Rolle, wie du sie siehst, und was macht die Bad Hersfelder Maria Magdalena speziell?
Ich spiele “Jesus Christ Superstar” jetzt zum fünften Mal. Ich bin sehr gläubig aufgewachsen, sodass ich das Gefühl habe, diese Figur schon lange zu kennen. So treffe ich Maria Magdalena als Figur in meinem Leben immer mal wieder. Jedes Mal, wenn ich diese Rolle spiele, fühle ich sie anders. Das liegt auch daran, dass ich mich selbst mit der Zeit verändere, älter werde und auf mich und mein Leben anders blicke. Dazu kommt natürlich, dass die Regie und das Umfeld sich in jeder Inszenierung ändern.
Was ich in dieser Rolle sehe, ist mehr als einfach nur eine Frauenrolle. Sie steht für mich für alle diese namenlosen Frauen in der Bibel. Klar ist Maria eine eigenständige Figur, aber sie vereint im Grunde auch Elemente der Mutter Jesu sowie einer Handvoll anderer biblischer Frauenfiguren in sich. Im Johannesbrief zum Beispiel steht, dass am Grab Jesu Maria Magdalena, die Mutter Jesu und “die anderen Frauen” stehen. Ich sage immer: Ich bin “die anderen Frauen”. Das gibt mir die Freiheit, meine Maria Magdalena immer wieder unterschiedlich auszulegen und neu zu erfinden: Als mütterliche Figur, als liebende Frau, als Freundin, als Kumpanin.
In dieser Inszenierung hier in Bad Hersfeld ist Maria Magdalena von Anfang an dabei, was sie viel präsenter macht und sie zu einem Teil der Gruppe um Jesus werden lässt. Sie ist hier viel greifbarer, auch dadurch, dass sie als Teil von Jesu Jüngern immer mittanzt. Es gibt hier sehr starke Bilder, zum Beispiel ist Maria in “Gethsemane” und der Kreuzigung als Einzige an Jesus Seite. Ich schicke Andreas [Bongard] immer meine Energie in diesen emotionalen Szenen; ich atme mit ihm, höre ihm zu und bin für ihn da. Das liegt mir persönlich sehr am Herzen und dafür bin ich unheimlich dankbar.
Dein Weg zur Musicaldarstellerin ist ein höchst ungewöhnlicher und auf jeden Fall einzigartig. Von der Bratschistin zum Musical. Kannst du unseren Lesern erzählen, wie es dazu kam, dass ein junges, introvertiertes Mädchen aus den USA zur Musik kam?
Meine Familie hatte lustigerweise gar nichts mit Musik zu tun gehabt, aber meine Mutter ist mit der gesellschaftlichen Norm konfrontiert gewesen, dass jedes Kind irgendein Instrument spielen können sollte. So habe ich mit vier Jahren angefangen, Klavier zu spielen. Ihr war meine schulische Ausbildung sehr wichtig, sodass sie mich zu einer Schule gebracht hat, an der man auch Kunst, Tanz, Musik und Theater lernen sollte. Mit neun Jahren musste ich dann eines der vier Felder auswählen. Ich hätte Theater genommen, aber meine Mutter meinte, dafür sei ich zu schüchtern. “Du machst Musik. Da bekommt jeder einen Part”, sagte sie mir. Und so ging mein Weg in die Musik los, wo ich dann zunächst Violine und dann Bratsche gelernt habe.
Und wie bist du dann von der Bratsche zum Musical gekommen?
Auch während und nach meinem Bratschen-Studium an der Uni war mir immer klar, dass ich eigentlich Theater spielen wollte. Aber ich sage immer, alles kommt, wie es soll: Dadurch, dass ich schon sehr früh in der Schule Musiktheorie gelernt und es in meinem Bachelor-Studium vertieft habe, lernte ich Musik wie eine Sprache zu lesen und zu verstehen. Es lief wirklich hervorragend als Musikerin mit Stipendium. Aber eines Tages saß ich im Orchester und der Dirigent gab mir eine Veränderung vor, die ich auf einmal sehr belanglos fand – ich merkte, dass es mir egal geworden war. Das war der Moment, in dem bei mir ein Umdenken begann: Will ich diesen Weg weiter gehen? Schließlich ist die Uni-Zeit doch auch dazu da, herauszufinden, was man wirklich will. Es war tatsächlich eine Art Krise, in der ich mich plötzlich befand, doch als ich mich intensiv gedanklich damit auseinandersetzte, was ich wirklich will, keimte der Wunsch von früher wieder auf. Das war wie ein Licht, das anging. Ich wusste: “Ich muss wenigstens probieren, Theater zu spielen!”.
So habe ich es dann gemacht: Ich habe meinen Bachelor abgeschlossen, musste mein Stipendium wieder zurückgeben, schauen wie ich alles finanziere und habe gleichzeitig nach Möglichkeiten geschaut, mich ins Musicaltheater einzufinden. Das gelang mir zum Beispiel durch verschiedene Workshops, in denen ich versucht habe, wie ein Schwamm alles Wertvolle aufzusaugen. Mein Verständnis von Musik hat mir am Anfang meines Theater-Studiums extrem geholfen.
Wie kamst du dann ausgerechnet nach Deutschland?
Während meines Schauspielunterrichts kam eines Tages eine amerikanische Opern- und Musicalsängerin hinzu und wählte mich für einen Belting-Workshop in Deutschland aus, den ich mittlerweile als Schicksal sehe. So kam ich das erste Mal hierher, genauer gesagt nach Kiefersfelden in Niederbayern, mitten in den Alpen. Das hat mich direkt verzaubert: In Florida gibt es keine Berge – das war ein unfassbarer Anblick!
Diese Zeit auf mich allein gestellt mit ganz neuen Impulsen am anderen Ende der Welt hat mich auf den Weg gebracht. Von dort aus ging es direkt nach Hamburg zu Stage Entertainment – im Rahmen des Workshops sollten wir lernen, Auditions zu bestreiten. Und wie es das Schicksal so wollte, hat die Joop Van Den Ende Academy mir dann sofort einen Studienplatz angeboten. Nach dem Workshop bin ich schnell nach Hause geflogen, habe mein ganzes Hab und Gut verkauft und bin, zur Überraschung meiner Mutter, zu einem neuen Leben in Deutschland aufgebrochen. Es ging alles sehr schnell und ich habe das natürlich alles so nicht geplant!
Beeindruckend! Und das zeigt besonders schön, wie das Schicksal oder der Zufall Einfluss auf unsere Leben nehmen können. Wie hast du denn Deutsch gelernt, als du an die Joop gekommen bist?
Ich empfinde Deutsch als eine ziemlich logisch konstruierte Sprache, die aus einem Set von Regeln besteht, an die man sich beim Sprechen halten kann. Das größte Geschenk zu der Zeit war, dass wir an der Joop Phonetik-Unterricht im Einzel- und Gruppensetting hatten. Das hat unfassbar viel gebracht. Es hieß immer Zuhören, Wiederholen, Verbessern und oftmals war auch eine ganze Menge Schwimmen dabei.
Für klassischen Deutschunterricht hatte ich höchstens abends Zeit – das war nicht wirklich zu vereinbaren. Nach einem Jahr ungefähr habe ich angefangen, mich mit der Sprache wohlzufühlen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem man sich trauen muss, zu sprechen. Bis dahin habe ich sehr viel zugehört: Auf der Straße, in den Garderoben, in Cafés und bei den Coachings. Ich wollte einfach imstande sein, über tiefgründige Themen mit den Menschen diskutieren und sprechen zu können. Das war der Ansporn dahinter. Und seitdem hat sich mein Deutsch stetig entwickelt und verbessert. Es ist das Wichtigste, nie aufzuhören zu lernen!
Du sagst oftmals, dass du das Lernen liebst. So lernst du bestimmt auch von jeder deiner Rollen etwas. Was hast du denn zum Beispiel von deinen prominentesten Rollen gelernt: Wie sieht es bei Deloris Van Cartier aus “Sister Act” aus?
Von Deloris habe ich Loslassen gelernt.
Nach über 1000 Shows in dieser Rolle kam mit der Produktion in der Schweiz für mich die Gewissheit, dass dies wohl die letzte Show sein wird, weil ich zu dem Zeitpunkt eigentlich plante, in die USA zurückzukehren. Der Plan hat sich mittlerweile offensichtlich geändert … aber damals fiel ein immenser Druck von mir ab und ich spürte, wie im positiven Sinne mir alles “egal” wurde – und wie lustig ich dadurch in der Rolle von Deloris wurde. Ich hatte kein Bedürfnis mehr, irgendetwas zu beweisen. Und da verstand ich erst die Rolle und was Loslassen auslösen kann. Wenn man seinen Verstand ausschaltet, kann richtig gutes Theater entstehen!
Was hast du von Rachel Marron in “The Bodyguard” gelernt?
Von Rachel habe ich Durchhalten und über sich hinauswachsen gelernt. In meiner Kindheit bin ich fast nur mit sakraler Musik und Klassik aufgewachsen und kam ja erst sehr spät ins Musical-Business. Vor Rachel hatte ich die klassisch geprägte Joanna aus “Sweeney Todd” gesungen. Und plötzlich ist da diese Mega-Rolle, mit der ich vorher eigentlich kaum Berührung hatte. Diese Pop-Diva Whitney Houston, von der ich pro Abend 14 Power-Songs rausballern sollte.
Dass ich das tatsächlich geschafft habe, den Weg von Bratschistin zu dieser Rolle … Ich glaube, durch Rachel habe ich meine Power gefunden.
Wie sieht es bei Felicia Farrell aus “Memphis” aus?
Felicia hat mich gelehrt, dass ich mit meinem eigenem Trauma transformativ umgehen kann. Stücke über Rassismus treffen mich und viele andere sehr, da sie so aktuell und schmerzvoll sind. Mit “Memphis” verbinde ich außerdem eine ganz wichtige Erinnerung für mich: Montego Glover war Jahre vor mir an derselben Uni wie ich. Sie war die erste Felica Farrell am Broadway – zu dieser Zeit schrieb ich ihr Fanpost, in der ich ihr sagte, ich plane Musicaldarstellerin zu werden. Das war in der Zeit, als ich noch im Orchester war und mir meine damaligen Professoren alle von diesem Weg abgeraten hatten. Aber Montego hat mir immer geantwortet und mich ermutigt! Als ich dann “ihre” Rolle bekommen habe, schloss sich ein Kreis.
Und mit Beginn der Probenzeit fühlte ich, wie schwer es für mich und die anderen PoC-Darsteller im Cast war, ein Trauma darzustellen, das uns alle selbst betraf. Wir haben viele Konversationen darüber gehabt und uns gegenseitig gestützt – es war schwer, aber auf jeden Fall war es das wert. In meiner Karriere habe ich sehr oft komplexe Gesangspartien ausfüllen dürfen, zum Beispiel Velma bei “Chicago” oder Sally Bowles in “Cabaret”. Einige davon basieren auf echten Pop-Diven, aber Felicia Farrell halte ich trotzdem für die anspruchsvollste Partie.
Da sprichst du etwas Wichtiges an. Was sind deine Gedanken zur PoC-Thematik in deinem Business?
Ich finde es wirklich wichtig, dass Diversität ein großes Thema geworden ist. Aber ich finde nicht, dass Diversität durch das Aufhängen einer Regenbogenfahne gezeigt wird. Oder wenn man sich Schlagwörter wie “Diversity” oder “Respect” ans Haus schreibt. Diversität ist nicht, eine Person of Colour auf ein Plakat abzudrucken. Vielmehr ist Diversität für mich der Wille und die Selbstverpflichtung, schwierige Konversationen zu führen. Es ist das Bewusstsein, dass wir alle, ohne Ausnahme, in Gesellschaften aufgewachsen sind, die nicht perfekt und makellos sind. Es ist die Realisierung und Bewusstmachung dessen, dass wir alle noch viel zu lernen haben.
Ich heiße sowohl das Mitgefühl als auch die auf Diversität abzielenden Besetzungen wirklich gut. Doch glaube ich, die richtige Arbeit besteht darin, den betreffenden Leuten zuzuhören, die ihre persönlichen Erfahrungen und die real existierenden Probleme auf den Tisch bringen, und ihnen zu glauben. Ihnen Glauben zu schenken ist unschätzbar bedeutend. Keine Entschuldigungen oder Erklärungen drumherum – zuhören und glauben. Das setzt nicht nur Demut und Mut voraus, sondern auch den Willen zu lernen. Denn wir alle, das schließt dich und mich mit ein, müssen noch viel lernen.
Du bist schon mit vielen Kulturen in deinem Leben in Berührung gekommen. Da wären deine jamaikanischen oder karibischen kulturellen Wurzeln auf der einen Seite und deine Kindheit und Jugend in Florida, dem südlichsten Bundesstaat des US-Festlandes. Und natürlich die deutsche Kultur, inmitten derer du schon seit Jahren lebst. Was hast du dir bewahrt und was übernommen in deinen jetzigen Alltag?
Zunächst einmal ist Miami, wo ich aufgewachsen bin, nochmal anders als der nördliche Teil Floridas und die klassischen Südstaaten der USA. Es liegt quasi südlich vom Süden. Während es zum Beispiel in Alabama sehr konservativ zugeht, ist Miami sehr bunt und geprägt von Lateinamerika und Ländern wie Jamaica, Trinidad und Kuba. Also identifiziere ich mich eigentlich nicht als Südstaatlerin. Vielmehr feiere ich, dass ich schon immer Immigrantin war. Ich bin halb US-Amerikanerin und halb Jamaikanerin. Meine Mutter ist mit 15 in die USA ausgewandert, weswegen wir immer in der Rolle waren, die Gesellschaft in den USA von einem äußeren Blickpunkt aus zu beobachten. Der starke Nationalismus und Überlegenheitsgedanke in den Staaten war kein Teil des Denkens in meiner Familie. Aber auf der anderen Seite sehe ich auch, dass ich nicht vollends Jamaikanerin bin: Die Jamaikaner sind generell viel entspannter unterwegs als ich. Ich als Workaholic passe da nicht so ganz rein. Ich arbeite aber dran, weniger Workaholic zu sein! [lacht]
Ich genieße die Freundlichkeit und Gastfreundschaft sowie die Entspannung in der Karibik, was mich immer erdet. Aber der amerikanische Ehrgeiz hat mich ebenso inspiriert und geprägt, auch wenn der Grundgedanke “Man kann alles schaffen, wenn man nur hart genug arbeitet” natürlich Quatsch ist. In den Mix kommt dann noch die anfangs schockierende deutsche Direktheit. An die habe ich mich aber gewöhnt: Es ist cool, dass die Leute sagen, was sie denken. Und das habe ich mir auch angeeignet.
Du sagst, du seist ein wahrer Workaholic. Was machst du denn in deiner Freizeit, wenn du dir doch mal welche gönnst?
Ich bin oft auf Netflix unterwegs und verbringe unheimlich gerne Zeit mit meinem Verlobten und mit Freunden. Ich bin aber auch gerne mal alleine, um Kraft zu tanken – auch wenn mir Kontakte und gegenseitiger Austausch eine wichtige Inspirationsquelle sind. Außerdem reisen wir gerne. Beach-Holiday gefällt mir oft wirklich gut.
Du bist auch in gemeinnütziger Hinsicht sehr engagiert. So hast du 2018 in Afrika mit Kindern gearbeitet. Kannst du uns davon erzählen?
Eine Freundin von mir leitet ein Waisenhaus in Uganda. Ich wollte immer mal nach Afrika – auch wenn ich als Amerikanerin nicht genau weiß, wo dort meine Wurzeln liegen. Wo sollte ich also bei diesen über fünfzig Ländern anfangen? Erstmal da, wo ich jemanden kenne! Und so ging es dann nach Uganda. Dann habe ich dort eine kleine Show mit den Kindern auf die Beine gestellt. Ich erinnere mich noch an ein wunderschönes, großes Mädchen dort, das Model werden wollte. Ich bin natürlich kein Model, aber ich habe alles gegeben, um ihr Selbstbewusstsein, Präsenz und das Walken zu vermitteln. Ob ihre Situation ihr je erlauben wird, ihren Traum zu verwirklichen, weiß ich nicht – aber wir haben zusammen geträumt. Wenn ich meinen Job Zuhause mache, bekomme ich täglich Applaus, was total schön, aber auch irgendwie abstrus ist – oder? Wem wird schon applaudiert, wenn er einfach seinen Job macht? Bei dieser Reise wollte ich sozusagen ein bisschen von diesem Applaus zurückgeben.
Du bist auch ehrenamtliche Teilzeit-Disney-Prinzessin. Was hat es damit auf sich?
Ich bin bei einer Agentur eingetragen, die zumeist krebskranke Kinder mit halbstündigen Video-Anrufen ihrer Heldinnen beschenkt. Und da bin ich als Prinzessin Tiana dabei. Ich habe mir extra ein Cosplay dafür von einer Freundin schenken lassen. Im Moment mache ich das leider etwas weniger, aber bei meinem nächsten Umzug, der bald ansteht, nehme ich das Kostüm wieder mit. Ich stehe auch mit einer deutschen Firma in Kontakt, obwohl es aktuell fast nur amerikanische Kinder sind. Manchmal ist es schwer, aber die Kinder glauben so fest an dich, dass es einfach sehr berührend ist. Und manchmal auch lustig! Ich erinnere mich an ein krebskrankes Mädchen, das ich in voller Tiana-Montur angerufen habe. Ihr geht es Gott sei Dank mittlerweile wieder gut, aber damals waren ihr alle Haare ausgefallen und sie trug deswegen eine Perücke. Sie flüsterte zu mir “Tiana, ich habe gar keine Haare, das hier ist nur meine Perücke – das sind nicht meine echten!” und am liebsten hätte ich ihr zurück geflüstert “Weißt du was? Ich trage auch nur eine Perücke!” Aber wir haben in dem Moment ein Spiel, an das alle glauben. Wenn man danach aber auflegt, ist es schon schwer und man muss das erstmal verdauen. Trotzdem ist es jeden Moment wert.
Disney scheint dir sehr am Herzen zu liegen. Unter anderem warst du ja auch Cast Member bei Disneyworld in Orlando, Florida. Wie war diese Zeit für dich?
Während meines Master-Studiums habe ich in Orlando bei Disney World gejobbt, ja! Das war eine so schöne Zeit. Mein erster Job war als Jedi-Meister. Ich war nie eine Prinzessin, weil ich einfach viel zu groß dafür bin – da durfte man maximal 1,70m sein. Außerdem gab es Tiana zu der Zeit noch nicht. Man kann bei Disney zwar Karriere machen, aber das war eigentlich nie mein Wunsch. Mit dem tollen Wetter und dem angenehmen Job nennen viele diese Arbeit passenderweise auch “Mouse Trap”, weil man aus Bequemlichkeit dabei bleibt. Für mich war das keine Option, obwohl die Zeit bei Disney wunderbar war!
Du hast dich selbst schon oft als Träumerin bezeichnet. Wenn du sämtliche Gender- und Typecasting-Grenzen sprengen könntest – welche Musicalrolle wäre dann deine Traumrolle?
In meinen Träumen bin ich ganz klar Aaron Burr aus “Hamilton”. Ich liebe diese Rolle abgöttisch!
Hast du Idole oder Vorbilder?
Ich liebe Audra McDonald, die eine große Inspiration für mich ist. Und natürlich Heather Headley! Sie ist so wunderbar “strange”. Sie hat eine außergewöhnliche Art zu singen, die ich sehr liebe. Mit 17 hat meine Mutter mir als Highschool-Abschluss-Geschenk eine Reise nach New York geschenkt. Auf einem Plakat haben wir “Aida” gesehen – für 20 Dollar sind wir dann rein gegangen. Mein erstes Musical. Und da stand sie: Eine große, karibische, amerikanische Frau – wie ich! Unglaublich. Unbeschreiblich. Jahre später habe ich sie bei “The Colour Purple” gesehen. Und ich habe sie Backstage getroffen! Ich war so verschwitzt und extrem nervös! Eine Freundin von mir, die damals dort mitgespielt hat, meinte sogar, Heather und ich sähen uns ähnlich. Mein Gott, das lief ab wie im Film. Ich hatte keine Worte!
Über dein Instagram habe ich mal gesehen, dass du auch Animes und Videospiele magst. Was sind denn da so deine Favoriten?
Mit meinem Verlobten spiele ich gerne zusammen “Life is Strange” und wir sind große “Jujutsu Kaisen” und “One Piece”-Fans. Ich freue mich schon total auf die Live-Action-Serie, die auf Netflix ab September rauskommt! Mehr kann ich gerade auch nicht verdauen, weil “One Piece” ja auch echt unendlich lang ist. Wir sind so verrückt danach, dass wir überlegen, die Titelmelodie als Einlaufmusik bei unserer Hochzeit zu nehmen! Aber ein richtiger Manga-Fan bin ich nicht, da gibt es viel krassere Fans, wie zum Beispiel mein Verlobter!
Also, dir scheint die japanische Kultur ja auch sympathisch zu sein, oder?
Total. Ich finde die Sprache sehr schön. Und sie machen unheimlich tolle Lieder, die ganzen Anime-Opening-Songs sind total schön strukturiert und haben klasse Melodien. Unsere Hochzeitsreise wollten wir eigentlich nach Japan machen, aber aufgrund meines nächsten Engagements fehlt da leider die Zeit. Mein Partner lernt schon seit Jahren Japanisch!
Und wie sieht es bei Filmen, Serien und Musicals aus?
Die Serie “Community” mag ich aktuell sehr und mein All-Time-Favorite unter den Filmen ist Disney’s “Der Glöckner von Notre-Dame”. Ich glaube, das dazugehörige Musical ist das beste, was ich bisher in Deutschland gesehen habe: Immer sauber und gut inszeniert, stets wahnsinnig tolle Besetzungen, einfach klasse. Insgesamt ist aber mein Lieblingsmusical “You’re a Good Man, Charlie Brown”. Das Stück ist sehr pur, charmant und witzig. Ich bin ein Fan von kurzen Songs mit großem Impact – zum Beispiel sowas wie “Will I” aus “Rent” oder “You Don’t Know This Man” aus “Parade”. Ich finde, das Musical um Charlie Brown sollte unbedingt mehr in Deutschland aufgeführt werden!
Würdest du dich selber als “Nerd” bezeichnen?
In gewisser Weise, ja. Ich bin ein Orchesterkind. Ich war nie wirklich eines dieser Cool Kids. Als Kind habe ich ganz viel komponiert, sehr viel gelesen und mir war nicht mal klar, dass Sachen wie Mode existiert haben. Ich hatte anderes zu tun, habe Geschichten und Streicherpartituren geschrieben. Ich habe Disneyfilme wie “Die Schöne und das Biest”, “Hercules”, “Pocahontas” und “Tarzan” geschaut und versucht, die großartige Musik zu verstehen. Diese Musik bewegt uns, und ich wollte herausfinden, wie sie das tut. Es ist positive emotionale Manipulation auf musikalischer Ebene. Total cool! Ja, also ein musikalischer Nerd bin ich definitiv! [lacht]
Wenn man so freundlich und nahbar ist wie du, wie schaffst man es mit Kritik umzugehen und da Grenzen für sich zu stecken?
Da ich sehr genau bin, muss ich aufpassen, dass ich nicht zu offen für Kritik bin. Denn ich speichere alles ab, und ich muss Platz für wichtigere Informationen machen. Daher lese ich gar keine Kritiken. Ich will nicht respektlos sein, denn natürlich ist das auch sehr wertige Arbeit, aber für mich persönlich sind Kritiken wie kleine Post-Its in meinem Hirn. Positiv wie negativ. Sie lenken mich in der Arbeit ab – besonders einzelne Momente, die herausgestellt wurden. An die denke ich dann immer, wenn ich die Bühne betrete – dass ich sie entweder reproduzieren oder ausbessern sollte. Das darf nicht passieren, denn diese Momente sollen eigentlich aus der Situation heraus entstehen.
Von Freunden und Fans, mit denen ich mich treffe, nehme ich gerne auch Komplimente an – aber was ich nicht mag ist, wenn man versucht mir ein Kompliment zu machen, indem man über meine Cover herzieht. Da bin ich Beschützerin. Meine KollegInnen sind alle großartig und man muss uns nicht vergleichen – es ist kein Wettkampf!
Und wie gehst du bei Auditions mit negativer Antwort um?
Wenn es mal nicht klappt, aus welchen Gründen auch immer, dann soll es so sein. Wenn ich zum Beispiel aufgrund meiner Größe eine Rolle nicht bekomme, sage ich mir: Das, was mich abgrenzt, macht mich gleichzeitig besonders.
Sehr inspirierende Antworten! Vielen lieben Dank dafür! Lass uns gegen Ende wieder etwas lockere Themen besprechen. Wenn ich fragen darf: Was ist dein Guilty Pleasure?
YouTube. Punkt! Und, naja… Kennst du diese Knack-Videos, wo die Leute eingerenkt werden? Das könnte ich stundenlang angucken, auch zum Einschlafen! Und ich bin einerseits sehr neidisch auf die Leute und andererseits fiebere ich richtig mit, wenn sie eingerenkt werden: “YES! YOU NEEDED THIS!” [lacht]
Darf ich dich zum Schluss noch nach ein paar Fun-Facts fragen? Dein Lieblingstier und deine Lieblingsfarbe?
Ganz klar: Elefanten! Die liebe ich! Und als Farbe… früher hätte ich “durchsichtig” gesagt. Heute eher sowas wie “sparkly black” – also glänzendes Schwarz!
Lieblingsessen, Junk-Food und Getränk?
Meine Mutter denkt, es wären ihre Spaghetti, aber das sind sie nicht! Pscht! [lacht] Das klingt jetzt vielleicht doof, aber ich liebe es, zu frühstücken! Rühreier, Croissants, Pancakes und all das Drum und Dran – das könnte ich auch abends essen. Mein Lieblingsgetränk… [überlegt] Ach, sein wir ehrlich: Cola Zero! Warum lügen?! Und wenn wir schon dabei sind: Mein liebstes Junkfood aktuell sind die sauren Würmer von Trolli! Kein Roadtrip ohne diese Dinger!
Dein Lieblingsmensch?
Den heirate ich bald! Sobald “Jesus Christ Superstar” vorbei ist, fahre ich wieder nach Berlin, wo wir so ziemlich direkt heiraten werden! Es hat etwas gedauert, weil man bei internationalen Hochzeiten echt viel Bürokratie erledigen muss – aber ich freue mich schon extrem!
Dein liebster Ort daheim und im Theater?
Auf meinem Sofa. Aber nicht wegen dem Sofa selbst, sondern wegen dem schönen, bunten Bild, das hintendran hängt. Wenn ich dann daheim bin mit meinem iPad auf dem Schoß, und ich in der Reflexion des Bildschirms dieses tolle Bild sehe, fühle ich mich wohl. Im Theater wäre mein liebster Ort definitiv die Maske. Dort habe ich Deutsch gelernt.
Welche Disney-Prinzessin und welchen Disney-Song liebst du am meisten?
Ich bin ein Fan von Tiana. Klar, wir sehen uns ähnlich. Aber ich fühle mich zu ihr verbunden, weil sie so ein Workaholic ist, genau wie ich! Ich liebe diesen 2D-Zeichenstil, zu dem Disney ein einziges Mal zurückgekehrt ist – und die Musik ist wundervoll. Die gesamte Disney Renaissance ist meine Kindheit. Am besten gefällt mir “Licht des Himmels” vom Glöckner von Notre-Dame. Wie gesagt: Ich liebe kurze, knackige Songs mit großer Botschaft!
Hast du einen Podcast, den du empfehlen würdest?
Gerade höre ich gerne “One Broke Actress”. Da erzählt eine Schauspielerin in Los Angeles, die Real Talk über die Industrie macht. Sie erzählt auch über die Zeiten, in denen es beruflich nicht so gut läuft, über Streiks in der Branche und viele andere interessante Themen. Ich war dort auch mal zu Gast!
Gibt es eine Rolle, die dir in deinem Oeuvre noch fehlt?
Nö, aktuell bin ich einfach locker und schaue, was kommt. Ich habe ja schon ein neues Engagement, aber noch darf ich nichts sagen! Ihr werdet es aber sehr bald sehen – vielleicht wenn wir dieses Interview hier veröffentlichen!
Vielen lieben Dank für das ausführliche Gespräch, deine Ehrlichkeit und deine Zeit, liebe Sidonie! Für dein nächstes Engagement wünsche ich dir alles Gute!
Mittlerweile steht Sidonies nächstes Engagement fest und sie darf endlich verkünden, dass sie ab November 2023 im Palladium Theater bei der Neuinszenierung des Disney-Musicals “Tarzan” die Affenmutter Kala spielen wird. Dafür befindet sie sich aktuell in der heißen Probenphase und besonders ihr kleines Disney-Herz freut sich sehr auf diese Chance, die sie von Berlin nach Stuttgart bringen wird! Wir wünschen der mittlerweile frisch verheirateten Sidonie alles Gute für ihr privates und berufliches Glück!
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