Anna Sophia Theil (Zeitl), Susan Maclean (Golde), Tänzer © Sandra Then
Anna Sophia Theil (Zeitl), Susan Maclean (Golde), Tänzer © Sandra Then
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Das Ensemble der Deutschen Oper am Rhein und die Düsseldorfer Symphoniker spielen sich mit “Anatevka” in die Herzen der Zuschauer. Eine gnadenlos gute Besetzung, eine kluge Inszenierung unter der Leitung von Felix Seiler und die beeindruckende Ausstattung von Nikolaus Webern und Sarah Rolke entheben die Botschaft des Stückes der dargestellten Zeit: Sowohl politische Einflüsse als auch das starre Festhalten an alten Traditionen zerrütten Biographien und entzweien Familien. Eine Frage, die auf allen Seiten bleibt: Ist es das wert?

Anatevka heißt das ukrainische Dorf, in dem der Milchmann Tevje (Andreas Bittl) mit seiner Familie in einer jüdischen Gemeinschaft lebt. Seine fünf Töchter möchte er der Tradition entsprechend gut unter die Haube zu bringen. Die jungen Damen sind jedoch emanzipierter als es dem liebevollen Familienvater lieb ist. In Zwiesprache mit Gott und seiner Frau Golde (Susan Maclean), stets das vermeintlich Beste abwägend, stößt er jedoch bei politischen Diskrepanzen an seine Grenzen, was schließlich nicht nur ihm das Herz bricht.

Felix Seiler ist mit seiner Inszenierung ein großer Wurf gelungen: Gerade im Jahre 2024 klingelt es bei der Erwähnung von Konflikten sowohl in der Ukraine als auch im jüdischen Kontext in den Ohren vieler. Seiler geht es vor allem um eines – nämlich die Menschlichkeit. Die Immersivität kommt durch die Identifikation mit den Figuren, die zufällig Juden sind, zustande: Emanzipation der Frauen, Abwägen von Tradition und Weiterentwicklung, politische Verfolgung und auch Glaubensfragen – all dies sind Konflikte, denen Tevje und seine Familie sich stellen müssen und die auch der heutigen Gesellschaft nicht fremd sind.

Trotz der Schwere der inneren und äußeren Konflikte der Figuren kommt auch der Humor nicht zu kurz: Gerade Andreas Bittl in seiner Rolle als Tevje meistert den einen oder anderen Spagat zwischen den verschiedenen Emotionen mit einer enormen Bühnenpräsenz, steht er doch fast in jeder Szene als Leitfigur auf der Bühne und trägt somit das Stück wie kein Weiterer. Sowohl stimmlich als auch tänzerisch liefert er einen gelungenen Auftritt nach dem anderen ab. Sein Bariton bedient verschiedene Emotionen in “Wenn ich einmal reich wär´” oder bei “Kleiner Spatz, kleine Chavaleh”. Einerseits den Schalk im Nacken, andererseits seine tiefe Liebe zu seiner Familie und seine Zerrissenheit, die Verstoßung seiner dritten Tochter Chava (Mara Guseynova) – Bittl gelingt es, seinem Publikum ans Herz zu fassen.

Das Bühnenbild von Nikolaus Webern setzt auf Minimalismus, der sich mit dem technischen Equipment der Bühne wunderbar vereinbaren lässt. Anatevka, das seien die Menschen der jüdischen Gemeinschaft, die dort lebt, so Regisseur Seiler. Das Dorf bzw. dessen Bewohner werden sinnbildlich durch Tücher und Laken an Wäscheleinen in verschiedenen Ebenen dargestellt und bleiben während des gesamten Stückes immer wieder in verschiedener Anordnung präsent. Bei Vertreibung und Abreise der Anwohner werden diese Wäschestücke nach und nach abgenommen, sodass Tevje mit dem Fiedler auf einer leeren Bühne, vor ihm eine ungewisse Zukunft, zurückbleibt.

Verschiedene Ebenen der Hebebühnen werden außerdem genutzt, um immer wieder den Fiedler auf dem Dach (Victoria Moreno Zaldúa) ins Spiel zu bringen: Während Tevje Zwiesprache mit Gott hält, über das “Gute Buch” und um Traditionen feilscht, tritt der Fiedler immer wieder im Hintergrund im Zwielicht auf. Bei der Hochzeitsfeier von Zeitel (Anna Sophia Theil) und Mottel (Roman Hoza) tritt der Fiedler einmalig in den Vordergrund – sodass seine Violine dem Anschlag der zaristischen Polizei zum Opfer fällt. Dies scheint wie eine Mahnung an beide Seiten, einen Schritt zu weit gegangen zu sein, denn: “Jeder von uns ist ein Fiedler auf dem Dach!”, so Tevje.

Die Kostüme von Sarah Rolke entsprechen sowohl der Mode des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts als auch der traditionellen Ausstaffierung gläubiger Juden: Vor allem die Tänzer, die bei Feierlichkeiten mit beeindruckenden traditionellen Choreographien von Danny Costello auftreten, aber auch Tevje und  Lazar Wolf (Günes Gürle) sind mit Gebetsschals und Kippas bzw. schwarzen Hüten ausgestattet. Alles wirkt sehr authentisch und optisch sehr ansprechend aufeinander abgestimmt. Insgesamt wird durchgängig auf eine respektvolle Abbildung jüdischer Traditionen wert gelegt.

Die Familie Tevjes ist in blau gekleidet, was die Identifikation erleichtert, im späteren Verlauf aber auch kennzeichnet, wer in Tevjes Familie aufgenommen wird, nämlich Mottel (Roman Hoza) und andere wie Perchik (Florian Simson) und Fedja (Valentin Ruckebier) nicht. Dafür bleibt Chava (Mara Guseynova) auch über die endgültige Abschiedsszene hinaus mit ihrer Familie verbunden.

Die zaristische Polizei erinnert in ihren Ledermänteln stark an die SS und grenzt sich rein optisch scharf von den ansonsten fröhlichen Farben der Kostüme der Anatevka-Bürger ab.

Die Düsseldorfer Symphoniker begleiten unter der Leitung von Harry Ogg den klassischen Gesang, der von dem gut 70-köpfigen Ensemble und Chor der Deutschen Oper am Rhein vorgetragen wird. Zur Sicherung des Textverständnisses werden Übertitel zu den Songs eingeblendet.

Neben Andreas Bittl, dem eigentlichen Star des Abends, sind weitere Sterne des Casts zu benennen: Susan Maclean als Golde, die sowohl als liebende Mutter und in ihrer Rolle und Funktion als Haus- und Ehefrau sehr überzeugt; ebenso im Gesang. Günes Gürle als der um seine zweite Braut geprellte Witwer Lazar Wolf berührt durch glaubwürdiges Spiel und mit seinem tiefen, klaren Bass.

Anna Sophia Theil schafft es in ihrer Doppelbesetzung als Zeitel und als Geist der Oma Zeitel eine enorme Spielbreite aufzuzeigen: Die liebevolle, aber bestimmte Abgrenzung vom Vater sowie ihre eigene Zerrissenheit wegen der Verstoßung der geliebten Schwester Chava übermittelt sie ebenso gekonnt und auf den Punkt wie die fiktive Darstellung der vermeintlich fiesen Oma, mit der sie besiegelt, dass es an der Zeit ist, Traditionen gehen zu lassen.

Mara Guseynova als abtrünnige Tochter Chava fällt vom ersten Moment als Mitglied der Familie im Abseits auf. Sie scheint immer diejenige zu sein, die distanziert zu den anderen Figuren und ihrer Lebenswirklichkeit ein wenig entrückt ist, obwohl sie beispielsweise stets gefühlvoll mit ihren jüngeren Schwestern umgeht. Eine schauspielerische Meisterleistung!

Die gesamte Inszenierung ist berührend wie opulent! In Bühnenpräsenz, Optik und Akustik sind keine Mängel erkennbar! Ganz großes Theater!


 
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KREATIVTEAM
Musikalische LeitungHarry Ogg
Christoph Stöcker
InszenierungFelix Seiler
BühneNikolaus Webern
KostümeSarah Rolke
ChoreografieDanny Costello
 
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CAST (AKTUELL)
TevjeAndreas Bittl
GoldeSusan Maclean
Zeitel / Oma ZeitelAnna Sophia Theil
(Vero Miller)
HodelKimberley Boettger-Soller
ChavaMara Guseynova
SprintzeMarla Rockstroh
BielkeCarla Schwitzke
JenteMorenike Fadayomi
MottelRoman Hoza
PerchikFlorian Simson
Lazar WolfGünes Gürle
FedjaValentin Ruckebier
WachtmeisterStefan Stechmann
RabbiJohannes Preißinger
Russischer Sänger, SaschaAndrés Sulbarán
Fruma SarahKatarzyna Wlodarczyk
FiedlerVictoria Moreno Zaldua
ChorChor der Deutschen Oper am Rhein
OrchesterDüsseldorfer Symphoniker
  
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TERMINE
Fr, 18.10.2024 19:30Theater, DuisburgWiederaufnahme
So, 27.10.2024 18:30Theater, Duisburg
Do, 31.10.2024 19:30Theater, Duisburg
Sa, 09.11.2024 19:30Theater, Duisburg
So, 24.11.2024 15:00Theater, Duisburg
So, 01.12.2024 18:30Theater, Duisburgzum letzten Mal 2024/25
 
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TERMINE (HISTORY)
Sa, 18.05.2024 19:30Opernhaus, DüsseldorfPremiere
So, 26.05.2024 18:30Opernhaus, Düsseldorf
Mi, 29.05.2024 19:30Opernhaus, Düsseldorf
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