Unsere monatliche Kolumne: Ingos Fernsehsessel
Unsere monatliche Kolumne: Ingos Fernsehsessel

Ingos Fernsehsessel - "Dear Evan Hansen"

Einmal pro Monat werde ich mich in meinen Fernsehsessel setzen und mir für euch einen Musicalfilm ansehen. Da werden bekannte Streifen dabei sein, aber auch Unbekanntes oder Vergessenes.

Der 17-jährige Schüler Evan Hansen leidet unter einer sozialen Angststörung und Depressionen. Sein Therapeut rät ihm, Briefe an sich selbst zu schreiben und die positiven Dinge in seinem Leben herauszustellen. Einer dieser Briefe, in dem er über seine Gefühle für seine Mitschülerin Zoe schreibt, gelangt in die Hände von Zoes Bruder Connor, der einige Tage darauf Selbstmord begeht. Connors Familie findet den Brief und glaubt, die beiden seien enge Freunde gewesen. Evan merkt, wie wichtig ihnen der Gedanke ist, dass der ebenfalls von psychischen Probleme geplagte Connor wenigstens einen engen Freund hatte. Deshalb lässt er sich auf das Lügenspiel ein.

Als die Verfilmung des Broadway-Erfolgs von Benj Pasek und Justin Paul angekündigt wurde, waren die Erwartungen ziemlich hoch. Ben Platt sollte wie am Broadway die Titelrolle übernehmen, in der Rolle seiner Mutter wurde Julianne Moore besetzt, die Rolle von Connors und Zoes Mutter ging an Amy Adams. Als der Film dann 2021 in die Kinos kam, machte sich aber schnell Ernüchterung breit. Dieser Ernüchterung schließe ich mich an. Ein großes Problem der Verfilmung ist leider Ben Platt. Er war seit den ersten Entwicklungsstadien mit dem Stück verbunden, hatte für seine Darstellung 2017 den Tony Award bekommen – und der Film wurde von seinem Vater Marc Platt produziert. Womöglich hatte man deshalb nie über einen anderen Darsteller nachgedacht. Bei den Dreharbeiten war er aber zehn Jahre älter als seine Figur. Um glaubhafter zu sein nahm er ab und bei Nahaufnahmen sieht man dann auch eine ordentliche Schicht Schminke auf seinem Gesicht. Schlimmer finde ich aber, dass er seine Gefühle durch ständiges Augenaufreißen ausdrückt. Das mag der Bühne geschuldet sein, wo man mimisch mehr geben muss als im Film, aber auf der Leinwand oder dem Bildschirm ist es einfach nicht überzeugend. Kaitlyn Dever als Zoe hat mich durch ihr theaterhaft-starres Spiel emotional auch nicht mitgenommen. Amy Adams’ Rolle strotzt zwar vor Klischees, trotzdem fand ich die trauernde, aber egozentrische Mutter recht glaubhaft. Julianne Moores Rolle wurde im Vergleich zur Bühnen-Vorlage gekürzt, aber sie macht das Beste daraus. Heimlicher Star des Films ist für mich Colton Ryan: Als Connor hat er nur wenige Szene, aber die gehören ganz ihm.

Bei einem Musical über psychische Probleme von Jugendlichen sind keine humorvollen Uptempo-Nummern zu erwarten. “Sincerely, Me”, der nachträglich erstellte Chat-Verlauf zwischen Evan und Connor, ist eine wohltuende Auflockerung und filmisch gut umgesetzt. Auch wenn bei “You Will Be Found” Evans Rede bei der Trauerfeier viral geht, findet Regisseur Stephen Chbosky gute Bilder dafür. Ansonsten ist seine Inszenierung träge und uninspiriert. Er hat aber auch mit einem Drehbuch zu kämpfen, dessen Dialoge so trocken daherkommen, dass sie rascheln. Auf der Bühne scheinen sie besser funktioniert zu haben, denn Stephen Levenson – Autor beider Versionen – hat dafür einen Tony Award bekommen.

Als ich in Kritiken gelesen hatte, dass es seltsam sei, wenn in diesem Film Leute plötzlich zu singen anfangen, dachte ich: “Das ist halt ein Musical, stellt euch nicht so an!” Doch schon am Anfang des Films, wenn Evan zwischen Schülern über den Schulflur läuft und “Waving Through a Window” singt, wirkt das überraschend bizarr. Als er zum ersten Mal bei Connors Familie eingeladen ist und dann plötzlich “For Forever” singt, ertappte ich mich bei dem Gedanken: “Da sitzt ein Mann bei Leuten am Esstisch, der plötzlich anfängt zu singen – wie unangenehm!”. Das Gefühl, dass die Songs wie Fremdkörper wirken, sollte man bei einem Musical nie haben – schon gar nicht als Musicalfan!

Musikalisch kann der Film aber überzeugen. Bei einem Großteil der Songs wurde der Gesang nicht vorher im Studio, sondern live beim Dreh aufgenommen. Ich mag das, weil es die Verbindung von Spiel und Gesang authentischer macht. Da verzeihe ich auch, dass Platt ein paar pathetische Schluchzer rausrutschen. Ich habe mir eine britische Bluray angesehen, deswegen kann ich die deutschen Synchron-Singstimmen nicht beurteilen.

Auf der Bühne habe ich “Dear Evan Hansen” bislang nicht gesehen, aber ich mag die Broadway-Cast-Aufnahme. Deswegen gehört die Verfilmung in meine Kategorie “Filme, die ich gern gemocht hätte, aber einfach nicht konnte”.

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