Die Beste ihrer Art: "Evita" (Konzeptalbum 1976)

[Die Beste ihrer Art] In der neuen muz-Serie “Die Beste ihrer Art” beschreiben muz-Autoren jeweils für ein Musical, welche CD-Aufnahme die ihrer Meinung nach relevanteste und beste ist. Zum Auftakt erklärt muz-Redakteurin Claudia Leonhardt, warum der “Evita”-Soundtrack mit Madonna nahezu perfekt ist – sie aber lieber zu einer 20 Jahre älteren Aufnahme greift. Sie können mitdiskutieren.

Seit der Entstehung von Andrew Lloyd Webbers Musical über die tragische Erfolgsgeschichte der argentinischen Präsidentenehefrau Eva “Evita” Perón sind nunmehr über 35 Jahre vergangen – und ungefähr ebenso viele CD-Einspielungen kamen in diesem Zeitraum auf den Markt. Neben Aufnahmen von West End und Broadway, dem Film-Soundtrack und zahlreichen Budget-CDs existieren Cast-Alben aus Australien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Italien, Island, Israel, Japan, Korea, Mexiko, Neuseeland, den Niederlanden, Österreich, Schweden, Spanien, Südafrika, der Tschechischen Republik, Ungarn sowie von zwei Europa-Tourneen. In die Titelrolle schlüpften dabei so hochkarätige Darstellerinnen wie Elaine Page, Patti LuPone, Isabel Weicken, Florence Lacey, Marti Webb, Pia Douwes, Madonna, Anna Maria Kaufmann und Elena Roger. Die Auswahl ist also durchaus beachtlich.

Auch wenn man sich als deutschsprachiger Fan in seiner Muttersprache vielleicht grundsätzlich am wohlsten fühlt, ist “Evita” eines der Stücke, dass man sich am besten im Original anhören sollte. Die deutsche Adaption – eine frühe Übersetzung von Michael Kunze – gereicht dem Musical nicht zum Vorteil: Viele der Wortwitze und Spitzfindigkeiten des Originals gehen verloren und eine Anhäufung von Komposita wie “Auslandskapital”, “Umweltverschmutzung” und “Spendengelder” lässt die Texte holprig erscheinen. Der Griff ins CD-Regal geht also geradewegs zu den englischsprachigen Aufnahmen.

Auf der sicheren Seite ist man mit der Komplett-Einspielung des Filmsoundtracks von 1996. Trotz aller Unkenrufe ist Madonna mit ihrer klaren Stimme und einer Interpretation, die gekonnt den Drahtseilakt zwischen energisch und zerbrechlich meistert, nahezu perfekt für die Rolle der Evita. Antonio Banderas an ihrer Seite ist überaus authentisch und dynamisch als verbitterter Revoluzzer Ché. Es ist eine moderne und kraftvolle Aufnahme, die bis ins Detail durchgestylt ist. Jede kleine Nebenrolle ist gut besetzt, die Arrangements sind für die Hollywood-Produktion perfektioniert worden, und eine ähnliche tontechnische Qualität wird man vergeblich suchen. Wenn man sich wirklich nur eine einzige “Evita”-Aufnahme zulegen will, dann wird man den Kauf des Soundtracks sicher nicht bereuen.

Andererseits: es ist eben “nur” Filmmusik – und Filmmusik wird meist noch besser, wenn sie in den zugehörigen Film eingebunden ist. Alan Parkers opulente Leinwand-Adaption ist es wert, gesehen und nicht nur gehört zu werden und gehört in jede DVD-Sammlung eines Musical-Liebhabers.

Wer abseits des Films ein reines “Evita”-Hörerlebnis haben will, sollte sich der allerersten CD-Einspielung des Stückes zuwenden. In so mancher Beziehung ist die zwei Jahrzehnte vor dem Hollywood-Streifen entstandene Konzept-Aufnahme das Gegenteil des Soundtracks. Das Musical war zu diesem Zeitpunkt noch in seiner Entstehungsphase – hier war noch nichts durchgestylt und perfektioniert, im Ensemble singen Tim Rice und Andrew Lloyd Webber noch selbst mit, und bis zur Uraufführung zwei Jahre später in London wurde etliches in Handlungsablauf und Text abgeändert. Es sagt wohl viel über die Qualitäten des Stückes aus, dass die Aufnahme dennoch bereits sehr ausgereift und ‘komplett’ wirkt. Sie hat nicht nur über die Jahre nichts von ihrer Faszination verloren, sondern im Gegenteil: Sie sticht positiv aus der (ohnehin im Durchschnitt hochwertigen) Masse der “Evita”-CD-Aufnahmen heraus.

Das hat sie einerseits den hervorragenden Interpreten zu verdanken. Julie Covington stand zwar auch in der Folgezeit nie als Evita auf der Bühne, singt die Rolle aber mit so viel Herzblut und Überzeugung, als hätte sie diese jahrelange gespielt. Colm Wilkinsons Ché wird im Laufe des Stücks zunehmend wütender und desillusionierter, was Wilkinson mit rauer, rockiger Stimme grandios verdeutlicht. Als Magaldi ist kein geringerer als Tony Christie zu hören – noch ganz ohne die Übertreibung und teilweise überzogene Selbstironie, die später zum Teil dieser Rolle wurde. Paul Jones, ehemaliger Sänger der Gruppe Manfred Mann, überzeugt als Perón zwischen gefährlichem Machtstreben und ehrlicher Zuneigung zu seiner Frau, während Barbara Dickinson als Mistress ein traurig-gefühlvolles “Another Suitcase in Another Hall” zum Besten gibt.

Mit einer guten Besetzung warten natürlich viele “Evita”-Aufnahmen auf. Den besonderen Reiz des Konzept-Albums macht aus, dass hier alles noch etwas anders ist, als man es gegebenenfalls von der Bühne her kennt. Und ‘anders’ heißt in diesem Fall keineswegs ‘schlechter’. Sicher, die Handlungsrelevanz von Chés Ambitionen, ein neuartiges Schädlingsbekämpfungsmittel an den Mann zu bringen, ist eher fragwürdig und wohl eine der wenigen Schwachstellen der Aufnahme. Ebenfalls in den folgenden Produktionen gestrichen wurde Chés zynische Solo-Nummer “The Lady’s Got Potential”, in dem er Evita bissig als “the greatest social climber since Cinderella” besingt – eines der absoluten Highlights dieser Aufnahme, das von Wilkinson mit einer solchen Dynamik interpretiert wird, dass es den Zuhörer förmlich mitreißt. Auch “Eva’s Sonnet” – ein melancholisches Solo, bei dem Eva sich mit schwindender Kraft noch zu einer letzten Kampfansage aufrafft – ist ein Song, den man nach Hören dieser Aufnahme nur noch ungern missen möchte, der es aber aus unerfindlichen Gründen nie auf die Bühne geschafft hat.

Darüber hinaus zeichnet sich das Konzept-Album durch eine wunderbar abwechslungsreiche und wirkungsvolle Instrumentierung aus. Die vom London Philharmonic Orchestra in einer Zusammenarbeit mit einer Rockband eingespielten Arrangements sind teilweise rockiger als in späteren Aufnahmen (was sich auch daraus erklärt, dass “Evita” ursprünglich als Rock-Oper konzipiert war). In der anlässlich des 20. Jahrestags erschienenen remasterten Version muss man auch vom Sound her nur sehr wenige Abstriche machen.

Während viele Stücke bei ihren Konzeptaufnahmen noch unfertig wirken, ist das “Evita” Konzept-Doppelalbum schon deutlich mehr als ein Rohdiamant, der erst noch fertig geschliffen werden muss. Hier hört man ein Musical in seiner Ur-Form, die zwar in der Folgezeit noch etlichen Veränderungen unterlag, aber bereits in diesem frühen Stadium ein komplettes, bühnenfähiges Stück darstellt. Im Gegensatz zu vielen späteren Einspielungen kommt Webbers Klassiker auf diesem Album noch vollkommen unverbraucht daher, sehr lebendig und mit großer emotionaler Resonanz. Ein absolutes Muss für “Evita”-Fans und diejenigen, die es noch werden wollen. (cl)

Welche “Evita”-CD bevorzugen Sie? Hier können Sie Ihre Bewertung abgegeben. Über die muz-Serie “Die Beste ihrer Art” können Sie auch im Forum mitdiskutieren. Nächste Woche lesen Sie: muz-Redakteur Markus Frädrich über das Musical Elisabeth.

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