[Die Beste ihrer Art] In dieser Serie beschreiben muz-Autoren jeweils für ein Musical, welche CD-Aufnahme die ihrer Meinung nach relevanteste und beste ist. Heute: muz-Redakteur Markus Frädrich erklärt, warum er im Fall von “Phantom of the Opera” die Aufnahme zum Londoner Jubiläumskonzert 2011 gegenüber der Original-Cast-CD vorzieht.
“Das Phantom der Oper” ist ein Musical der Zahlen und Rekorde. Kein Programmheft, das sich den Hinweis darauf verkneifen kann, dass das Stück von Andrew Lloyd-Webber bereits in soundsoviel Städten zu sehen war und soundsoviel Millionen eingespielt hat. Seit 2006 feiert sich das “Phantom” als Musical mit der längsten Spielzeit am Broadway.
Beeindruckender als die Rezeptions-Statistik des Stücks, das bei seiner Premiere 1986 im Londoner Her Majesty’s Theatre von der Kritik zerrissen wurde, ist die Tatsache, dass es sich seither kaum verändert hat. Welches Musical kann das schon von sich behaupten? Dokumentieren bei anderen Lloyd-Webber-Musicals die verschiedenen CD-Aufnahmen einzelne Entwicklungsstadien des Stücks – man vergleiche die Einspielungen zu “Sunset Boulevard” aus London und Los Angeles – ist die Trackliste zum “Phantom” seit 25 Jahren gleich geblieben. Selbst das für die Filmversion zu Oscarzwecken eilends hinzukomponierte “Learn To Be Lonely” setzte sich im Anschluss nicht als Bereicherung der Partitur durch (während “You Must Love Me”, mit dem Lloyd-Webber 1996 die Filmversion von “Evita” ergänzte, auch auf späteren Aufnahmen zu finden ist, inklusive des aktuellen Broadway-Castalbums). Nein, beim “Phantom” blieben die Veränderungen marginal – etwa, was die Friedhofszene im Zweiten Akt anbelangt, in der das Duett zwischen Christine und dem Phantom in der Londoner und in der ungarischen Fassung zu einem Terzett wird, weil auch noch Raoul hinzustößt.
Die Zahl der Aufnahmen zum “Phantom” trägt dem internationalen Erfolg des Musicals Rechnung – es gibt unter anderem Einspielungen der japanischen, mexikanischen, koreanischen und polnischen Fassung des Musicals. Am Anfang aber war die Londoner Originalaufnahme (inzwischen ist sie in digitaler Überarbeitung erhältlich), die dokumentiert, wie Lloyd-Webber die Rolle der Christine seiner damaligen Ehefrau Sarah Brightman auf den Leib geschneidert hat. Michael Crawford gibt die Titelpartie weniger stimmgewaltig als mancher Nachfolger, stellt mit seiner hell timbrierten Stimme aber eindrucksvoll die Verletzlichkeit des Phantoms hervor. Steve Barton gibt als Raoul den formvollendeten Gentleman.
Als englischsprachige Alternativen bietet sich etwa die
kanadische Highlights-Einspielung aus dem Jahr 1990 mit einer kraftvollen Leistung von Colm Wilkinson an, darüber hinaus eine kompakte, aber allzu glatt produzierte Highlights-Studio-Version von 1993 mit Graham Bickley (in einer späteren Wiederveröffentlichung ersetzt durch Ethan Freeman), Claire Moore und John Barrowman.
Die bis heute vollständigste deutschsprachige Dokumentation der “Phantom”-Bühnenfassung stammt aus dem Jahr 1988. Die Wiener Castaufnahme ist atmosphärisch dicht geraten, das Orchester spielt unter Caspar Richter dynamisch auf. Luzia Nistler meistert die stimmlichen Anforderungen an den Part der Christine mühelos, in ihrer Interpretation stört allerdings das stark künstlich gerollte “R”. Alexander Goebel gibt mit seinem Rocktenor ein differenziert-kraftvolles Phantom, seine Wechsel zwischen Kopf- und Bruststimme geraten allerdings nicht immer bruchlos. Alfred Pfeifer ist ein viel zu behäbiger Raoul, Priti Coles dafür eine Carlotta-Topbesetzung.
In der Hamburger Highlights-Aufnahme hat Michael Kunze seine deutschen Texte nicht nur im Titelsong nachgebessert: Aus dem “Engel der Lieder” wird der “Engel der Muse”, die “Musik der Dunkelheit” wird zur “Musik der Nacht”. Wagner-Tenor Peter Hofmann verleiht seinem Phantom ein dunkles Timbre, klingt aber viel zu bemüht und unbeweglich. Anna Maria Kaufmann trifft alle Töne, aber noch lange nicht jede Emotion. Ein mittelprächtiger Tonträger aus einer Zeit, in der Hardy Rudolz noch Hartwig hieß, und als Raoul auch so klang. Selbst das Orchester hat wenig Pfeffer: Wie viel kraftvoller klingt die “Phantom”-Ouvertüre doch auf der niederländischen Aufnahme mit Henk Poort, die drei Jahre nach der Hamburger erschien.
Wer’s deutsch mag, hat seit 2005 auch noch den
deutschsprachigen Soundtrack zur Filmfassung des Musicals zur Auswahl. Uwe Kröger (Phantom) und Jana Werner (Christine) sind insofern passend besetzt, als dass sie es der tatsächlichen Filmbesetzung Gerard Butler und Emmy Rossum gleichtun und an der Partitur scheitern. Da mögen die Orchester-Arrangements auch noch so aufregend und opulent sein: Bekannte Namen sind nicht in jeder Rolle Erfolgsgaranten.
Wie viel packender ist da die Aufnahme der Gala-Aufführung geraten, die Produzent Cameron Macintosh im Oktober 2011 zum Geburtstag des Musicals in der Royal Albert Hall auf die Beine gestellt hat. Meine Argumente, warum diese Aufnahme die Beste ihrer Art ist: Erstens ist es eine qualitativ hochwertig produzierte Live-Aufnahme des Musicals. Zweitens dokumentiert sie das Stück ungekürzt und ohne Schnitte. Drittens sind die fulminanten Orchesterarrangements eine Klasse für sich und erinnern an vielen Stellen an die Filmfassung. Und viertens: Die jungen Darsteller.
Ramin Karimloo, Sierra Boggess und Hadley Fraser machen sich das 25 Jahre alte Material des Stücks völlig zu Eigen und liefern frische, packende und fordernde Interpretationen ab. Hadley Fraser gibt seinen Raoul nicht als romantisches Weichei, sondern als Kämpfer. Sierra Boggess ist eine selbstbewusste, ausdrucksstarke Christine, Ramin Karimloos fantastische Bühnenpräsenz als Phantom transportiert sich in all ihren Facetten auch auf CD. Alles wirkt wie aus einem Guss, und am Ende mündet die Aufnahme in eine Schlusssequenz, die keine CD zuvor so spannend und emotionsgeladen überliefert hat. Sicher nichts zum Nebenbei-, aber zum Immer-Wieder-Hören. Und sicher nicht die letzte Aufnahme zum Musical über den Mann mit der Maske. (mfr)
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