Warum Thomas Schulze auch nach 1600 zerbrochenen Kronleuchtern noch nicht phantom-müde ist.
Freitag ist Flugtag. Wenn Thomas Schulze, seines Zeichens “Tutor of Deutsches Lied” am “Royal Northern College of Music” in Manchester, seine letzte Gesangsklasse unterrichtet hat, packt er seinen Koffer, verabschiedet sich von Frau Rachel und Tochter Hannah und setzt sich in den Flieger nach Frankfurt. Über den Wolken stellt er seine Armbanduhr eine Stunde vor, liest gemütlich Zeitung und kommt nicht selten mit seinem Sitznachbarn ins Gespräch. Wenn er nach dem Grund seiner Reise gefragt wird und erklärt, er sei das “Phantom der Oper” und pendle jedes Wochenende zwischen seinem englischen Wohnsitz und dem Stuttgarter Palladium Theater, hat er für den Rest des eineinhalbstündigen Fluges für Gesprächsstoff gesorgt: “Dann muss ich natürlich viel erzählen – die Leute denken ja immer, dass Theater etwas ganz Tolles und Spezielles ist. Ist es ja auch. Aber für mich bedeutet es: tägliche Arbeit.”
Die Anfänge dieser Arbeit liegen 14 Jahre zurück. Ein befreundeter Schauspieler aus dem Cats-Ensemble überredete ihn damals zum Vorsingen in der Hamburger Neuen Flora. Dort castete man gerade für ein Musical rund um ein maskiertes Phantom – Neuland für den lyrischen Tenor Schulze. Der hatte zwar schon einmal als Tony in der West Side Story auf der Bühne gestanden, sonst aber nach seinem Studium an der Musikhochschule Berlin vor allem Opern, Passionen und klassische Lieder interpretiert. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – zeigte sich Regisseur Harold Prince von Schulzes Spiel und Stimme so angetan, dass er ihn als Erstbesetzung für die Rolle des Theaterdirektors Monsieur André engagierte.
Kurz darauf wurde Schulze zur Erstbesetzung des Vicomte de Chagny befördert, von 1993 bis 1998 sang er schließlich sechs Vorstellungen pro Woche als “Erstes Phantom” die “Musik der Nacht”. Insgesamt 1400 Mal ließt er als liebeskranker Operngeist den Lüster zerschellen – und wäre es nicht zu Differenzen mit dem damaligen Management gekommen, hätte er die Rolle seines Lebens bis zum letzten Flora-Vorhang weitergespielt. “Ich liebe es, das Phantom darzustellen”, sagt er. “Das Faszinierende an dieser Rolle ist ihre Vielschichtigkeit. Es gibt so viele Facetten an dieser Figur – sie ist liebevoll, sensibel, verletzt, voller Wut – dass einem gar nicht langweilig werden kann.”
Deshalb überlegte er nicht lange, als die Stage Holding bei ihm nachfragte, ob er in der Stuttgarter Produktion als alternierendes Phantom mitwirken wolle – und reist seit November 2002 jedes Wochenende von England in die Schwabenmetropole. Ein Heimspiel für Schulze: Er ist in Stuttgart aufgewachsen, nutzt die Zeit zwischen den beiden Vorstellungen, um seine Mutter zu besuchen, und übernachtet bei einem seiner beiden Brüder.
Wenn er zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung im Theater eintrudelt, hängt sein Kostüm bereits griffbereit auf einem großen Kleiderständer in der Garderobe – einem großen, mit gemütlichen Polstersesseln eingerichteten Zimmer direkt neben dem Bühneneingang. Nach dem Einsingen geht’s zum Schminken. Gut eine Stunde braucht die Maskenbildnerin für seine Phantom-Fratze.
Dann beginnt die Vorstellung. Welche Christine ihm zur Seite steht erfährt er erst, wenn sich der auf der Bühne der magische Spiegel zu ihrer Garderobe öffnet. “Ich könnte vor der Vorstellung auf den Dienstplan schaun. Aber ich tu’s meistens nicht”, sagt Schulze. “Ich lasse mich lieber überraschen und versuche hinter dem Spiegel zu erraten, zu welcher Kollegin die Stimme gehört. Meistens liege ich richtig.”
Der Rest der Vorstellung ist eine Mischung aus Routine und Reaktion.
Routine – weil Thomas Schulze jede Note der Partitur und jeden Winkel der Bühne genau kennt und perfekt beherrscht. Seine Bühnenpräsenz ist unbestritten. Jeden dramatischen Moment kostet er voll aus, jede seiner Gesten und Handgriffe sitzt – und wenn sein ferngesteuertes Boot aufgrund technischer Probleme mal wieder in die Kerzen rammt statt durch den Nebel zu gleiten, weiß er blitzschnell zu improvisieren.
Reaktion auf der anderen Seite – weil Thomas Schulzes Phantom trotz aller Geübtheit immer wieder für Überraschungen gut ist. “Ich gehe jede Vorstellung unbefangen an und erlebe die Geschichte von A bis Z neu”, sagt er. “Ich mache nicht jeden Abend bewusst etwas anderes – suche und finde aber immer wieder neue Nuancen.” Sein Rezept gegen eingefahrene Gleise: Schritt für Schritt durch die Vorstellung gehen. Niemals zurück- oder vorausdenken. Hören, was Christine singt, dann antworten. Hören, was Raoul singt, dann antworten. Jede Phrase ist eine Replik. Indem er sich das bewusst macht, durchlebt er jeden seiner Auftritte als sei es der Erste – vom mysteriösen “Bravi, bravi, bravissimi” bis zur glühenden Intensität im Finale.
Schlussapplaus. Das Ensemble bildet eine Gasse, fällt in den donnernden Beifall des Publikums ein. Thomas Schulze kommt auf die Bühne, verbeugt sich. Ein großer Blumenstrauß fällt ihm zu Füßen. Schulze hebt ihn auf, winkt dankend einer Dame in der ersten Reihe zu. Heide Beims aus Berlin.
Die 62-Jährige ist ein Thomas-Schulze-Fan der ersten Stunde. “Als ich ihn eines Tages in Hamburg auf der Bühne sah, dachte ich: Das ist das Phantom”, erzählt sie und bahnt sich gekonnt ihren Weg an den übrigen Zuschauern vorbei. Unzählige Aufführungen mit Thomas Schulze habe sie seither gesehen – in jeder habe sie eine neue Nuance seines Phantoms entdeckt. “Seine Stimme, seine Ausstrahlung…!” Heide Beims gerät ins Schwärmen, und während sich “ihr Thomas” in seiner Garderobe abschminkt, kürzt sie den Weg zum ihm durch einen Gang für Theater-Mitarbeiter ab. “Ich darf das, die kennen mich hier eh’ alle!” Am Bühneneingang wartet die zierliche Frau im schwarzen Kostüm auf ihren “Engel der Muse” mit den stahlblauen Augen. Und als dieser endlich erscheint, kommt es zum großen Hallo.
Spätestens hier hat Thomas Schulze die Wirklichkeit wieder. Ein entspannter Plausch mit seinen Fans, dann Durchatmen bei einem kühlen Guinness im Pub gegenüber. “Im Anschluss an die Vorstellung fühlt man sich wie nach einem Fußballspiel”, erklärt er. “Durch die Intensität und den körperlichen Einsatz ist man so aufgewühlt, man kann nicht sofort abschalten. Man muss erst zur Ruhe kommen, an andere Dinge denken.”
An andere Dinge denkt er spätestens, wenn er auf dem Rückweg zum Theater an einer großen Anzeigetafel vorbeikommt. Sie zählt die verbleibenden Stunden bis zum Phantom-Finale, am 23. Mai. Schulze steht bereits einen Tag zuvor zum letzten Mal auf der Bühne des Palladium-Theaters. “Nichts im Leben dauert ewig”, sagt er. “Das war für mich eine wunderbare Zeit, ich möchte sie nicht missen.” Seine Abschiedsvorstellung will er “wie jede andere auch angehen. Vielleicht mit der ein oder anderen Träne im Auge.” Im Anschluss wird er noch mit seinen Fans zusammensitzen. Werden die ihn bald wieder auf einer Musicalbühne sehen können? “Vielleicht. Les Misérables würde mich interessieren. Der Valjean, aber auch der Javert. Aber auch der klassischen Musik will ich die Treue halten – den Evangelisten in Bachs Passionen singen, oder Liederabende gestalten.”
Und das Phantom? Sind seine Tage als Mann mit der Maske endgültig gezählt? Thomas Schulze lächelt. “Das habe ich 1998 in Hamburg auch gedacht. Aber man soll nie nie sagen.”