Der Mann hat eine Mission: Andreas Gergen, Chef des Berliner Schlossparktheaters, will kommerzielles Off-Musicaltheater in Deutschland etablieren.
Es ist gleich der erste Satz, den Andreas Gergen sagt, wenn man mit ihm über seine Arbeit spricht: “Ich verstehe mich hier als die Off-Musicalszene.” Das Wort Off wird im Folgenden noch häufig fallen, denn es liegt Gergen eindeutig am Herzen. Eine Off-Szene mit kleinen Theatern, wenig Ausstattung, einem lebendigen Spielplan und jungen, oft gewagten Musicals – was in New York, London und sogar den Niederlanden fester Teil der Theaterszene ist, fehlt in Deutschland.
Gergen, Jahrgang 1973, legte seine Prüfung zum Musicaldarsteller an der Berliner Hochschule der Künste mit Auszeichnung ab und trat sein erstes größeren Engagement als Ensemblemitglied und Zweitbesetzung Clopin beim “Glöckner vom Notre-Dame” an. “Aber ich habe schnell gemerkt, dass Long-Run nicht mein Ding ist”, sagt Gergen. Nach einem Jahr stieg er aus, machte sich mit Gerald Michel und Christian Struppeck selbständig und inszenierte Musicals, Schauspiele und Kinderstücke für kleine Theater in Berlin, Wien und Basel. 2004 schrieb der Berliner Senat den Betrieb des leer stehenden Schlossparktheaters in Steglitz aus. Über Christian Struppeck, mittlerweile künstlerischer Leiter bei der Stage Holding, kam der Kontakt zum Musical-Multi zustande. Der stieg als Finanzier ein, Gergen bekam gemeinsam mit Hartmut Bartel den Zuschlag und pachtet das Haus für fünf Jahre.
Mittlerweile ist die Stage Holding Betreiber des Theaters; Gergen ist angestellter künstlerischer Leiter und Geschäftsführer. “Das kleine Haus der Stage Holding”, ist die offizielle Sprachregelung. “Wir sehen uns auch als Talentschmiede der Stage Holding”, sagt Gergen. Für die sei das Off-Musical nur in Deutschland Neuland, die holländische Mutterfirma sei schon länger in freien Produktionen und kleineren Theatern engagiert: “In Holland steht Joop van den Ende nicht nur für Großproduktionen.”
436 Plätze hat das Schlossparktheater – “genau die richtige Größe für ein Off-Theater”, sagt Gergen, der das Londoner Donmar Warehouse als Vorbild ausgibt. Das Programm ist für Außenstehende noch verwirrend vielfältig. Auf die europäische Erstaufführung der schrägen Musical-Satire “Pinkelstadt” folgte die bunte Operetten-Neufassung “Wie einst im Mai”. Daneben gab es Lesungen und ein Kindermusical mit Gergen als dem “Sams”. Im Herbst steht wahrscheinlich ein Gastspiel des Kammer-Beziehungsmusicals “Die letzten fünf Jahre” auf dem Programm.
Wo ist da der rote Faden? “Wir wollen bekannt werden für europäische Erstaufführungen, und dafür, dass wir alte, lange nicht gespielte Musical-Stoffe wieder ausgraben”, sagt Gergen. Aber Überraschung gehöre zum Konzept. “Wir müssen natürlich Fährten auslegen, damit das Publikum sich an etwas orientieren kann. Aber manchmal biegen wir halt doch in letzter Sekunde von der Fährte ab.”
Ein wenig lässt er sich dann aber doch auf den Wunschzettel schauen – das Puppen- und Menschen-Musical “Avenue Q” stehe weit oben. “Das würde gut in unser Haus passen. Aber das dürfte noch ein langer Weg sein, bis wir die Rechte haben.” Schließlich müsse man die amerikanischen Produzenten überzeugen, dass sie eine eigenständige Inszenierung erlauben. “Das Original-Kreativteam einzufliegen, dass könnte keiner bezahlen”, sagt Gergen. Außerdem wolle man sich mit eigenen Inszenierungen profilieren. “Eine Inszenierung aus den USA zu übernehmen, das kommt für uns nicht in Frage.”
Viel Freizeit hat Andreas Gergen längst nicht mehr, “von zehn bis zehn” dauere der normale Arbeitstag – “und wir haben gerade keine Vorpremierenphase”. Gergen hat alle drei bisherigen Produktionen selbst inszeniert und jeweils auch Zweitbesetzungen übernommen, beim “Sams” die Erstbesetzung der Titelrolle. In seiner Zeit als freier Regisseur war er zudem mit dem Team der TV-Serie “Familie Heinz Becker”, in der er den Sohn Stefan spielt, auf 150-Vorstellungen-Tournee durch deutsche Mehrzweckhallen; demnächst stehen die Dreharbeiten für eine neue Staffel an.
Er könne sich auch gut vorstellen, nebenbei noch in anderen Häusern Stücke zu inszenieren und vielleicht auch wieder selbst regelmäßiger zu spielen. “Es passt nicht zu dem, was ich über Long-Runs gesagt habe – aber der Leo Blum in ,The Producer’, das wäre eine tolle Rolle.” Er habe Verständnis, dass sowohl die Vereinigten Bühnen Wien als auch die Stage Holding Bedenken gegen das Stück mit dem Nazi-Theater-im-Theater haben. Aber: “Ich würde davor nicht zurückschrecken.”
Damit der Traum vom etablierten Off-Musical-Theater Realität wird, hat Gergen noch einen weiten Weg vor sich. “Pinkelstadt” sei wegen der Kombination des schrägen Themas und der Besetzung mit Ilja Richter ein “Paukenschlag” zum Start gewesen. “Wir waren bundesweit in den Medien und sogar der Spiegel hat berichtet – ich hätte nicht gedacht, dass wir solch eine Aufmerksamkeit erringen können. Mit einem Horrorladen hätten wir das nicht geschafft.”
Finanziell war das Stück mit 70 Prozent Auslastung und einem Ergebnis “knapp unter null” noch kein durchschlagender Erfolg, “aber wir müssen den Leuten hier auch erst mal wieder ins Bewusstsein rufen: In Steglitz gibt es ein Theater, da passiert was.” Für viele läge das Viertel gedanklich ganz weit draußen, dabei fahre man vom Bahnhof Zoo nur gut zehn Minuten mit der U-Bahn.
Bis sich Gergens Traum vom etablierten Off-Musical-Theater erfüllt, ist es wohl noch ein weiter Weg. “Berlin ist als Musical-Standort noch ein Zacken schwieriger als etwa Hamburg.” Anderswo werde Musical eher mit Unterhaltung gleichgesetzt, dem Berliner Publikum müsse man aber immer auch eine gewisse ironische Distanz bieten “ohne das Genre zu verraten”.
Insbesondere mit “Pinkelstadt” hat das Schlossparktheater aber schon einen wichtigen Schritt geschafft: Es wird beachtet. “Wenn Claus Peymann zur Premiere ein Glückwunsch-Fax schickt”, sagt Gergen, “das ist schon klasse.”