Ein Song pro Tag

Nach Musicals wie “The Scarlet Pimpernel”, “42nd Street” und “Die 3 Musketiere” übersetzt Wolfgang Adenberg “Rent” neu ins Deutsche – wir haben ihm dabei über die Schulter geschaut.

“December 24th, 9 p.m., Eastern Standard Time…”, dröhnt es aus den Autolautsprechern von Wolfgang Adenberg. Seit sechs Wochen liegt “Rent” im CD-Fach. Jedes Mal, wenn Adenberg den Zündschlüssel umdreht, sind Roger, Mimi & Co. mit an Bord. Denn hier kommen ihm die besten Ideen. Beiläufig, wenn er im Straßenverkehr die Gedanken kreisen lässt. So wie unter der Dusche. Oder beim Zähneputzen. Hier ist ihm die Grundidee für “Without you” eingefallen. Stundenlang hatte er am Schreibtisch über den kurzen, dreisilbigen Sequenzen des Songs gebrütet. “Without you / the ground thaws…” Auf die Idee, sich von der Vorlage zu lösen und zwei Verse zu einer sechssilbigen Sequenz zusammenzufügen, kam er erst mit der Zahnbürste im Mund. “Auch wenn du / nicht da bist…”

Bis “Without you” ist Adenberg gar nicht gekommen, als er sich 1996 die gerade erschienene Original-Castaufnahme zum ersten Mal angehört hat. Die zweite CD des Doppelalbums blieb unberührt in der Hülle. “Ich hab’s abgrundtief gehasst”, erinnert er sich. “Die Musik fand ich nicht im Mindesten innovativ. Sie klang wie Rockmusik der 70er-Jahre. Und die Geschichte war mir viel zu übertrieben, denn wirklich alle haben Aids, sind entweder lesbisch, schwul, Junkies oder alles zusammen.” Erst Jahre später wurden Adenberg die vielen Parallelen zwischen Jonathan Larsons Biografie und der Handlung von “Rent” bewusst. “Larson hatte, bevor er “Rent” schrieb, drei Freunde durch Aids verloren. Und wie Mark wurde auch er von seiner Freundin für eine andere Frau verlassen. Diese Authentizität hat mich mit dem Stück versöhnt.” Als ihn der Verlag “Musik und Bühne” Ende 2005 gebeten hat, das Musical neu ins Deutsche zu übersetzen, hat er ohne langes Zögern zugesagt. “Weil Rent ein tolles Stück ist und eine große Herausforderung.” Die umstrittene erste deutsche “Rent”-Fassung von Heinz Rudolf Kunze hat er sich bis heute nicht durchgelesen – um unvorbelastet an der Neuübersetzung arbeiten zu können, die bald erstmals in einem größeren Theater in Hessen zu hören sein soll (die Vertragsverhandlungen sind noch nicht abgeschlossen).

So sitzt Wolfgang Adenberg seit Anfang Februar jeden Tag ab halb sieben am Schreibtisch und brütet über Zeilen wie “The nurse took him home / for some mercurochrome.” Kommen ihm auch noch so viele Ideen beim Autofahren oder Spazierengehen – die handwerkliche Arbeit erledigt er in seinem Arbeitszimmer, und zwar zu selbst auferlegten “Bürozeiten”. Unter einem gewissen Druck zu arbeiten fällt ihm leichter. Das tägliche Arbeitspensum ist genau festgelegt: ein vollständiger Song.

Spontan wird dieser morgens beim Durchblättern ausgewählt, denn Adenberg arbeitet sich kreuz und quer durch das Textbuch, setzt immer dort an, wo ihm eine Idee kommt. Was folgt ist stundenlanges Silbenzählen, Notieren, Durchstreichen. Oft überträgt er die Grundaussage einer Zeile frei ins Deutsche und versucht dann erst, den Text auf die Musik zu bringen. “No day but today” hat Adenberg zum Beispiel erst sinngemäß mit “Es zählt nur der heutige Tag” übersetzt – bis zur endgültigen Version “Es zählt nur das Jetzt” war es dann nicht mehr weit.

Zwischendurch eine kurze Recherche im Internet – Wer ist eigentlich Ted Koppel? Und was hat es mit “Captain Crunch” auf sich? – und ein kurzer Blick ins Reimlexikon. Doch auf den richtigen Reim zu kommen, ist meist nicht schwer. Amüsiert erinnert er sich zurück, als er auf die Stadt “Atlantic City” in seiner Übersetzung von “Lucky Stiff” keinen deutschen Reim gefunden und das Geschehen deshalb kurzerhand nach Reno verlegt hat – solche Eingriffe sind jedoch selten nötig. Viel schwieriger, als einen Reim zu finden, ist es, ihn sinnvoll einzubauen. Das ist Knobelarbeit.
Die konzentrierte Stille in seinem Arbeitszimmer wird nur gelegentlich unterbrochen, wenn Adenberg eine Stelle auf CD nachhört oder auf dem Klavier nachspielt. Erst wenn die Verse niet- und nagelfest sind, speichert er sie im Computer. Bis dahin ist es ein mühseliger Weg, der sich beim abschließenden Lesen kaum erschließt. “Jedes Musical lässt sich ins Deutsche übersetzen”, sagt Adenberg. Aber der Weg dahin ist bisweilen hart. “Es gibt zwei Dinge, die man wirklich nicht gesehen haben muss”, sagt Adenberg. “Wie Wurst gemacht wird, und wie ich Liedtexte schreibe.”

Liedzeilen, die sich übersetzt anhören, sind Wolfgang Adenberg ein Dorn im Auge. “Das Publikum kann so ein Text-Manko selten erkennen. Es merkt allerdings unterbewusst, dass irgendetwas falsch ist.” Ein guter Songtext müsse den Dialog mit anderen Mitteln fortführen, ohne einen Bruch zu verursachen. Bei modernen Musicals wie “The Last Five Years” und “Rent” sei das am schwersten. “Weil das Texte sind, die auf Augenhöhe mit unserer Alltagssprache sein müssen. Hier darf auf der Bühne keine verklausulierte, pseudopoetische Kunstsprache zu hören sein, sondern authentische Sprache von heute.” Um das zu erreichen, übersetzt Adenberg nicht immer wörtlich, sondern setzt wie sein Kollege Michael Kunze auf das Prinzip der freien Nachdichtung. “An eine Liedtextübersetzung muss man herangehen wie an ein Gemälde: Wenn man zu nah davor steht, sieht man nur einen Haufen Farbkleckse, die keinen Sinn ergeben. Erst wenn man sich davon entfernt, erkennt man das große Ganze.”

Das sei gerade bei einem Libretto wie “Rent” wichtig, in das viele dem deutschen Publikum unbekannte Begriffe aus der amerikanischen Kultur eingearbeitet sind. Wie “Dorothy und Toto”, die im Text von “La Vie Bohème” über den Regenbogen tanzen – oder der Abzählreim “Hey diddle diddle, the cat and the fiddle, the cow jumped over the moon”, auf dem Maureens Performance fußt. Adenberg münzt die Szene in seiner Übersetzung deshalb auf den deutschen Kinderreim “Die Kuh, die saß im Schwalbennest”, in der ebenfalls von einer fliegenden Kuh die Rede ist. Auch für die Kose- und Spitznamen aus “Rent” hat Adenberg freie Entsprechungen im Deutschen gesucht: Aus “Honeybear” wird “Schätzelchen”, aus “Pooky” wird “Schnuckel”, aus dem abfälligen “Muffy” wird “Muschi”.

Keine Zeit hat Adenberg dagegen an den Gedanken verschwendet, die Handlung von “Rent” vollständig aus dem East Village nach Deutschland zu übertragen: “Dazu ist sie zu sehr im New York der 90er verankert.” Bei “The Last Five Years” habe er dagegen eine Zeit lang mit einer Schauplatz-Verlegung nach Berlin geliebäugelt. Aus “A Summer In Ohio” wäre dann “Ein Sommer in der Eifel” geworden.

So frei Wolfgang Adenberg manche Textzeile übersetzt, so eng hält er sich an die musikalischen Vorgaben. Änderungen der Melodie kommen für ihn nur bei Auftakten und Rezitativen in Frage – ansonsten muss die deutsche Fassung dem Originalsong Note für Note entsprechen. Bei “Seasons of Love” hat ihn diese Philosophie ganz schön in die Zwickmühle gebracht, denn um die berühmten 525600 Minuten im Deutschen unterzubringen, hätte er die Musik verändern müssen. Schweren Herzens hat er sich entschlossen, auf die genaue Minutenzahl zu verzichten. “Das hat mich wirklich geschmerzt – aber das geht nun einmal nicht wörtlich”, sagt er. In seiner Übersetzung heißt es nun “Ein bisschen mehr als fünfhunderttausend Minuten”.

Mit diesem Kompromiss ist er mehr als zufrieden. “Als ich mit dem Song fertig war, habe ich gedacht: Mensch, der könnte auch auf Deutsch ein Klassiker werden.” Nicht immer während seiner Übersetzungsarbeit ist er so optimistisch. Ungefähr zur Halbzeit verfällt er regelrecht in Panik. “Irgendwann kommt immer der Zeitpunkt, wo ich denke: Das schaffe ich nie”, sagt er. “Dann kann mich auch nicht der Gedanke trösten, dass es bisher immer geklappt hat.” Auf “Would you light my candle?” darf man ihn zum Beispiel im Moment nicht ansprechen. Die Zeile bereitet ihm schlaflose Nächte. Seinen ersten Entwurf – “Machst du mir mein Licht an?” – hat er wieder verworfen. “Denn eigentlich möchte ich die Kerze und die Doppelbedeutung erhalten.” Wie, das weiß er noch nicht – und am 15. April ist Abgabetermin. Bis dahin wird er mit der “Rent”-CD im Auto zweifellos noch einige Kilometer zurücklegen. Und sich jeden Tag ausgiebig die Zähne putzen.

Overlay