Die Krise hält an

Viele Revivals, ein paar (US-)Importe und sehr wenige Uraufführungen – so sieht die aus kreativer Sicht ernüchternde Bilanz des Jahres 2007 am West End aus. Damit unterscheiden sich die Trends kaum vom Vorjahr. Verstärkt hat sich der Einfluss von TV-Casting-Formaten.

Genau wie im Vorjahr glänzte das West End 2007 nicht gerade durch neue, innovative Stücke. Nur zwei große Musicalproduktionen feierten ihre Uraufführung – und beide mussten nach wenigen Wochen wieder schließen. “Bad Girls – The Musical” (12. September bis 17. November im Garrick Theatre), eine Musicaladaption der gleichnamigen ITV-Frauenknastserie, konnte trotz eines erfolgreichen Testlaufs in Leeds am West End nicht bestehen. “Desperately Seeking Susan” (15. November bis 15. Dezember), eine Musicalversion des 1980er-Jahre-Films “Susan verzweifelt gesucht” mit den Songs von Rockerin Blondie, verschwand nach nur vier Wochen wieder von der Bühne des Novello Theatres. Eine dritte Uraufführung, wenn auch in einer vergleichsweise kleinen Produktion, zeigte Menier’s Chocolate Factory mit “Take Flight” (25. Juli bis 22. September). Im Gegensatz zu vorherigen Produktionen des Hauses wurde das Musical über Flugpioniere nach seiner ohnehin begrenzten Spielzeit nicht in ein größeres Theater am West End transferiert.

Für frischen Wind sorgten dort dafür Importe aus Toronto und New York, wie die bombastische Bühnenadaption von Tolkiens “Lord of the Rings” (seit 19. Juni im Drury Lane Theatre). Nach ihrer Uraufführung in Toronto wurde die technisch höchst aufwendige Produktion in einer gekürzten Version nach London importiert. Weniger Erfolg hatte der Broadway-Klon “The Drowsy Chaperone” (6. Juni bis 4. August im Novello Theatre). Obwohl der britische Musicalstar Elaine Paige die Titelrolle übernahm, fand die Satire auf Musicalklassiker und ihre Fans kein Publikum in London und verabschiedete sich nach nur zwei Monaten. Einen wesentlich besseren Start legte die Stage-Entertainment-Produktion “Hairspray” (seit 30. Oktober im Shaftesbury Theatre) hin. Die schrille Komödie, in der Musicalstar Michael Ball als übergewichtige Hausfrau auftritt, wurde von der britischen Presse wohlwollend aufgenommen. Das Donmar Warehouse holte erstmals Jason Robert Browns “Parade” (24. September bis 24. November) ans West End. Am Broadway war das anspruchsvolle Südstaatendrama 1999 gefloppt, doch in London spielte die Neuinszenierung von Rob Ashford ihre begrenzte Spielzeit vor ausverkauftem Haus.

Bei den Revivals machte die Monsterpflanzenkomödie “Little Shop of Horrors” den Anfang. Die Inszenierung von Matthew White hatte im Vorjahr ihre Premiere in Menier’s Chocolate Factory gefeiert und war im Anschluss vom 12. März bis 23. Juni im Duke of York’s Theatre und vom 28. Juni bis 8. September im New Ambassadors Theatre zu sehen.

Der Sommer stand ganz im Zeichen der Klassiker und Gute-Laune-Shows. So zog die Sheffielder Produktion von “Fiddler On the Roof” am 29. Mai ins Londoner Savoy Theatre. Die English National Opera setzte “Kismet” (27. Juni bis 14. Juli) mit Michael Ball und Faith Prince in den Hauptrollen auf ihren Spielplan, und in der Royal Festival Hall gab es ein Wiedersehen mit “Carmen Jones” (25. Juli bis 2. September), Oscar Hammersteins Musicaladaption der Bizet-Oper. Das Sommermusical im Regents Park war “Lady, Be Good!” (17. Juli bis 25. August) von George und Ira Gershwin. Auch die Werke Stephen Sondheims waren im Sommer in zeitlich begrenzten, kleinen Produktionen zu sehen. So etwa die Compilation-Show “Side by Side by Sondheim” (1. Mai bis 23. Juni) im Venue Theatre, “Into the Woods” (18. bis 30. Juni) im Linbury Studio des Royal Opera House und eine konzertante Fassung von “Sweeney Todd” (5. bis 7. Juli) in der Royal Festival Hall.

Die sonnigen Monate brachten aber auch zwei Gute-Laune-Shows, die sich erst im Vorjahr verabschiedet hatten, für eine begrenzte Spielzeit ans West End zurück: “Fame” (8. Mai bis 1. September im Shaftesbury Theatre) und “Footloose” (17. August bis 6. Dezember im Playhouse Theatre). Außerdem kehrte die Buddy-Holly-Biografie “Buddy” (seit 7. August im Duchess Theatre) wieder nach London zurück. Im Herbst erwachte Jonathan Larsons Rock-Musical “Rent” (seit 16. Oktober im Duke of York’s Theatre) zu neuem Leben – in einer modernisierten Fassung, mit dem Titelzusatz “remixed”. Und der Winter bescherte dem britischen Publikum Jerry Hermans “La Cage Aux Folles” in Menier’s Chocolate Factory. Die Previews begannen am 27. November, doch wegen der Krankheit des Hauptdarstellers wurde die offizielle Premiere auf Januar 2008 verschoben.

Zwei weitere Revivals feierten 2007 besonders medienwirksam ihre Premieren, weil ihre Hauptdarsteller zuvor im Rahmen von TV-Casting-Shows ausgewählt worden waren. In der ITV-Show “Grease Is the Word” setzten sich Danny Bayne und Susan McFadden gegen ihre Konkurrenten durch und sind seit 8. August als “Grease”-Traumpaar Danny und Sandy im Piccadilly Theatre zu sehen. Die BBC-Show “Any Dream Will Do” gewann Lee Mead, der seit 17. Juli als Joseph in “Joseph And the Amazing Technicolor Dreamcoat” auf der Bühne des Adelphi Theatres steht. Eine dritte Casting-Show für die Rolle der Lady of the Lake in der Londoner “Spamalot”-Produktion startete im Herbst – diesmal allerdings im schwedischen Fernsehen. Mit der Besetzung durch eine schwedische Darstellerin im kommenden Jahr wollen die Produzenten vor allem die Touristen aus Skandinavien zu “Spamalot” locken und den internationalen Charakter des West Ends als europäisches Musical-Zentrum stärken.

Übrigens ergatterten 2007 auch viele der weniger erfolgreichen Casting-Kandidaten Musicalrollen. Von den Joseph-Anwärtern wurde Ben Ellis als Link Larkin in “Hairspray” besetzt, Daniel Boys übernahm die Rollen des Princeton und Rod in “Avenue Q” und Craig Chalmers wurde doch noch Joseph, allerdings in der Tournee-Produktion. Seine Bewerbung um die Rolle des Danny in “Grease” machte Tom Bradley immerhin zum Jesus der UK-Tournee von “Godspell”. Außerdem gab es ein Wiedersehen mit den Kandidatinnen, die sich im Vorjahr in der ersten britischen Casting-Show um die Rolle der Maria im “The Sound of Music”-Revival beworben hatten: Aoife Mulholland spielte zuerst die Roxie in “Chicago”, um dann die alternierende Maria in “The Sound of Music” zu werden. Und Siobhan Dillon wurde als Patty Simcox in “Grease” engagiert.

Bekannte Künstler aus anderen Entertainment-Bereichen hielten dieser Invasion der Casting-Stars entgegen und verstärkten einige West-End-Produktionen durch ihre prominenten Namen. Im “Chicago”-Revival stand fast immer ein Gaststar auf der Bühne. So gaben sich Spandau-Ballett-Frontmann Tony Hadley, Schauspieler Maxwell Caulfield (“Grease 2”) und Boygroup-Sänger Duncan James (Blue) als Anwalt Billy Flynn die Klinke in die Hand. Außerdem war Popsängerin Tina Arena mehrere Wochen als Roxie Hart zu sehen und Enfant Terrible Kelly Osbourne gab ihr West-End-Debüt als Mama Morton. Auch das “Rent”-Revival bekam Verstärkung von Ex-Sugarbabe Siobhan Donaghy und TV-Moderatorin Denise Van Outen. Hollywood-Schauspieler Don Johnson stieß als Nathan Detroit zum “Guys and Dolls”-Revival, konnte die Produktion jedoch nicht vor dem Aus bewahren: Der letzte Vorhang im Piccadilly Theatre fiel am 14. April nach einer Laufzeit von knapp zwei Jahren.

Fünf weitere Großproduktionen verabschiedeten sich 2007 aus dem West End. Den Anfang machte “The Producers” am 6. Januar nach zwei Jahren und zwei Monaten im Drury Lane Theatre. Frank Farians Boney-M-Musical “Daddy Cool” verließ das Shaftesbury Theatre am 17. Februar nach nur fünf Monaten. Für Trevor Nunns Inszenierung des Klassikers “Porgy & Bess” fiel der letzte Vorhang am 5. Mai nach sechsmonatiger Laufzeit im Savoy Theatre. Andrew Lloyd Webbers “Evita”-Revival räumte das Adelphi Theatre nach knapp einem Jahr am 26. Mai. Und schließlich zog das Motown-Musical “Dancing in the Streets” am 14. Juli aus dem Playhouse Theatre aus, nachdem es zwei Jahre lang in verschiedenen Londoner Spielstätten zu sehen gewesen war.

Weiterhin erfolgreich hielten sich die Top Drei der am längsten laufenden Musicals: “Les Misérables” mit 22 Jahren am West End, “Phantom of the Opera” mit 21 Jahren und “Blood Brothers” mit 19 Jahren. Auf eine für ein Revival ungewöhnlich lange Laufzeit brachte es “Chicago”, das am 5. Dezember seinen zehnten Geburtstag im Rahmen einer Benefiz-Gala feierte – Vorbilder, an die wohl kaum eine der Produktionen, die 2007 Premiere hatten, annähernd herankommen wird. Man darf gespannt sein, ob das West End 2008 aus seiner kreativen Krise herauskommt. Die nächste Casting-Show für ein weiteres Revival (“Oliver!”) ist bereits angekündigt.

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