Berührend, trotz der Klischees

Ohne große Produktionen hat sich “Bare” über die Jahre eine weltweite Fangemeinde gesichert. Warum eigentlich?

Ein katholisches Internat. Zwei schwule Teenager, von denen einer sich natürlich auch mit einem Mädchen einlässt. Ein tragisches Ende. Mehr Klischee geht eigentlich gar nicht. Kein Wunder, dass es die Show nicht an den Broadway geschafft hat…

So waren die ersten Gedanken zu “Bare”. Doch irgendetwas muss dieses Stück an sich haben, wenn seit dem Jahr 2000 weltweit bereits über 100 professionelle Produktionen und Amateuraufführungen existieren und die Fanmenge selbst in den Ländern, in denen “Bare” noch nicht gespielt wurde, stetig anwächst.  

Die Story von Jon Hartmere und Damon Intrabartolo ist kurz zusammengefasst. Die katholischen Internatsschüler Peter und Jason führen unentdeckt eine heimliche Beziehung. Alles ist harmonisch, bis Peter beschließt, dem Versteckspiel ein Ende zu machen und seiner Mutter von allem zu erzählen. Jason ist strikt dagegen, und beide entfremden sich immer mehr, bis Jason schließlich eine Affäre mit der Mitschülerin Ivy beginnt. Peter und Jason suchen beide Rat in der Kirche, erhalten hier jedoch keine Unterstützung. Zusätzlich machen Eifersucht, Drogen und Unsicherheit den Figuren des Stücks das Leben schwer. Zum Ende hin scheint Jason sich wieder gefangen zu haben und wagt während der Schulaufführung von “Romeo & Julia” einen neuen Annäherungsversuch an Peter. Gleichzeitig verrät Matt, einer der Mitschüler, das Geheimnis der beiden Hauptfiguren den anderen. Doch für Peter und Jason kommen diese Ereignisse zu spät, die Geschichte endet für alle tragisch.

Musik und Texte stammen ebenfalls von Hartmere und Intrabartolo. In einigen Produktionen wird “Bare” als Popoper bezeichnet, in anderen als Rockmusical. Die Songs sind eine gute Mischung aus beidem. Es gibt rockige Elemente, die besonders bei den Ensembleszenen und einigen starken Duetten eingesetzt werden. Die ruhigen Stücke rutschen eher in die Richtung Popballade. Kennt man nur die Cast-Aufnahme, fällt es zunächst schwer, einen besonderen Song als Ohrwurm zu entdecken. Nach mehrmaligem Hören kristallisieren sich jedoch immer mehr Stücke heraus, die unbewusst mitgesungen werden und im Kopf bleiben.  

Die Besonderheit an “Bare” liegt sicher in der Originalität. Weder das Buch noch die Musik beruht auf einer bereits existierenden Vorlage. Die Story kann zwar so in jedem Internat der Welt geschehen, im Vergleich zu “Spring Awakening” liegt aber kein Roman zu Grunde. Zudem ist “Bare” eines der wenigen häufig gespielten Rockstücke, die eigenes Material verwendet und nicht in die Kategorie Jukebox-Musical fällt. Gerade dieses Musikgenre macht “Bare” auch für diejenigen interessant, die die seichte Musicalmusik eher meiden.  

Thematisch ist das Musical ein Wagnis, und sicher ist das Thema ein Hauptgrund, dass “Bare” bisher nicht auf den großen Bühnen der Welt gespielt wurde. Zwei schwule Hauptfiguren, die im Gegensatz zu anderen Stücken weder ins Alberne gezogen werden, noch mit dem Dragqueenklischee spielen, sind selten. In vergleichbaren Stücken wie “Rent” gibt es zwar auch das Motiv Homosexualität, dort sind es aber zum einen nicht die klaren Hauptrollen, zum anderen kommt hier wieder die Dragqueen als Alternative zum tragen. Mit “Bare” wurde Mut bewiesen, ein Stück komplett auf diesem Thema aufzubauen.  

Weltweit gibt es aktuell zwei Produktionen, die besondere Beachtung verdienen. Zum einen gab es 2012 ein Revival in New York (Off-Broadway), bei der ein neues Libretto und bisher nicht genutztes Material zum Einsatz kamen. Das zu dieser Neuauflage angekündigte Castalbum soll 2013 erscheinen.  

Die zweite Produktion von “Bare” wird seit Ende April 2013 im Union Theatre in London aufgeführt. Diese Inszenierung markiert die offizielle, professionelle Europapremiere des Musicals. Bisher wurde “Bare” nur an zwei Universäten in York und Liverpool als Laienproduktion auf die Bühne gebracht. Das Union Theatre in London ist ein winziges Theater, dessen Auditorium im Inneren eines Eisenbahnbrückenpfeilers ein Zuhause gefunden hat. Die Bestuhlung besteht aus in U-Form angeordneten alten Kinosesseln und bietet circa 80 Zuschauern Platz. Trotz der Enge wird aber auch im Union Theatre auf Livemusik wert gelegt, das Orchester befindet sich in einem Nebenraum des Komplexes. Die für vier Wochen in London gespielte Version ist an die Uraufführung im Jahr 2000 angelehnt, aufgrund der beengten Spielraumsituation wurde jedoch auf aufwendige Requisiten verzichtet. Ein paar Stühle sowie ein zu Altar oder Bett umfunktionierbares Regal genügen. Zudem wurde der Figuar Nadia in der englischen Version kein Cello gegeben, sie konzentriert sich in dieser Version auf die Einstudierung ihrer Rolle für das große Theaterstück.  

“Bare” in London besticht vor allem durch die Intimität des Theaters. Ein wenig störend sind zwar die durch die niedrige Deckenhöhe doch sehr nahen Scheinwerfer, die beim Einstellungswechsel laute Geräusche von sich geben. Man vergisst es jedoch recht schnell, sobald die Handlung Fahrt aufnimmt. Die Figuren sind den Zuschauern so nah, dass man das Gefühl bekommt, selbst zur Handlung zu gehören.

Die fantastische Cast fasziniert durch ihre jungen, talentieren Mitglieder. Alle überzeugen mit starken Stimmen und großer Bühnenpräsenz. Bemerkenswert ist, dass sich das Ensemble zutraut, komplett ohne Mikrofon zu singen. Besonders zu erwähnen sind hier Michael Vinsen (“We Will Rock You”, Zürich) als Peter und Ross William Wild als Jason. Doch auch bei den Nebenfiguren stechen drei Personen aus dem Ensemble heraus. Hat es Hannah Levane als Sister Chantelle noch leicht, das Publikum mit schwungvollen Gospelnummern und Humor auf ihre Seite zu siehen, fallen Dale Evans als Matt und Matt Harrop als Priest durch Ausstrahlung und starkem Gesang auf. Beide holen aus ihren kleinen und im Fall des Priests recht düsteren Rollen das Beste heraus und spielen sich so in das Gedächtnis der Zuschauer.

“Bare” hat seine Klischees. Aber es lohnt sich, alle Vorurteile auszublenden und sich auf dieses Musical einzulassen. Der Besuch des Union Theatre hinterlässt bleibenden Eindruck und man ist versucht, sich dieses Musical wieder und wieder anzusehen.

Leider wird “Bare” eine der letzten Produktionen im Union Theatre sein, da das Theater einer umfassenden Straßensanierung zum Opfer fallen und einem Bürokomplex weichen wird. Ob das Musical durch die aktuelle Inszenierung genug Aufmerksamkeit erregt, um in naher Zukunft einen Platz im West End zu finden?

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