Traditionen bewahren, Modernes hinzunehmen

Die Zeiten sind härter geworden für Kunstschaffende, Musiker und Musikliebhaber. Fulminanter Live-Orchestersound wird zunehmend durch künstliche Synthesizer-Klänge und Click-Tracks ersetzt und Deutschland läuft sein Chor-Nachwuchs weg. Muss man also Abstriche machen, wenn es darum geht, Musicalfans hochwertige Unterhaltung zu präsentieren? Nein, meint Wolfgang Harth, Kirchenmusiker und freiberuflicher Dirigent und Chorleiter aus Hennef (in der Nähe von Köln). Dass es auch anders geht, beweist er seit einigen Jahren unter anderem mit der inzwischen überregional bekannten Show “FACES of MUSICAL”.

Wolfgang Harth ist seit über 30 Jahren Chorleiter und Musikpädagoge. Als Vorstandsmitglied ist er seit Jahren im Chorverband Rhein-Sieg für 120 Chöre beratend tätig. 2009 hob er gemeinsam mit Ehefrau Wilma Harth, einer ausgebildeten Mezzosopranistin und Stimmbildnerin, das Chor-Projekt “MusicAl Dente” aus der Taufe – einen gemischten Chor, der seinen Schwerpunkt im Bereich der Unterhaltungsmusik setzt und dabei besonders die Genre Pop- und Musical vertritt. Heute organisiert Harth Musik-Veranstaltungen, die das kulturelle und musikalische Leben in der Region entscheidend prägten. Neben seinen Chören stehen dabei regelmäßig Musicalgrößen wie Pia Douwes, Jesper Tydén, Kevin Tarte oder Sabrina Weckerlin auf der Bühne. Auch Bernd Steixner, Musical-Director des Apollo Theaters sowie Pianistin Marina Kommissartchik kommen gerne nach Hennef, um mit Harth zu musizieren. Für sein Engagement wurde er 2012 vom Chorverband Rhein-Sieg mit der Chorleiter Ehrennadel ausgezeichnet.

Vom Kirchenmusiker zum Musicalshow-Organisator – das klingt nach einem interessanten Werdegang. Verrätst Du uns etwas darüber?

Oh je, wo fange ich da am Besten an? Eigentlich hatte ich nicht unbedingt vor, das zu werden, was ich heute bin. Ursprünglich wollte ich nach meinem Abitur tatsächlich Kirchenmusik studieren. Darauf habe ich intensiv hingearbeitet und habe auch eine Aufnahmeprüfung gemacht. Dann jedoch hat ein Schlüsselsatz meines damaligen Klavierlehrers, der auch gleichzeitig Konzertorganist war, mich zum Umdenken gebracht. Er sagte wörtlich zu mir: “Du kannst von mir aus Kirchenmusik studieren so lange du willst. Aber lern’ erst einmal was Gescheites, etwas, womit Du vor allem Geld verdienen kannst. Kirchenmusik ist brotlose Kunst.”

Ein Satz, den wohl viele junge Leute angesichts ihrer ursprünglichen Berufspläne hören…

Genau. Ich habe also gründlich überlegt und mich dann für ein Studium der Schulmusik entschieden. Ich habe zunächst Musik und Theologie für Lehramt studiert. Anschließend habe ich in Köln noch ein Aufbaustudium “Dirigat” angehängt. Da mir die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen immer sehr viel Spaß gemacht hat, bot es sich an, nicht nur schulisch, sondern auch in meiner Freizeit mit Jugendgruppen und Chören zu arbeiten, so dass ich eigentlich stets geprägt war von moderner Musik, also der sogenannten U-Musik. Neben meiner schulischen und später dann freiberuflichen Tätigkeit hatte ich aber im Nebenberuf immer eine feste Anstellung an einer Kirche, das heißt, ich bin nach wie vor Kirchenmusiker und habe in über 30 Jahren inzwischen auch sehr viel Sakralmusik aufgeführt. Das mache ich selbst heute noch, sofern es meine Zeit zulässt.

Wie kam dann der Sprung zu Deiner heutigen Tätigkeit und wie hast Du Deine Leidenschaft fürs Musical entdeckt?

Als meine Frau und ich vor 25 Jahren “Starlight Express” sahen, hatten wir plötzlich eine Riesenlust, etwas in dem Bereich zu machen. Im Hinterkopf hatte ich natürlich auch die Schule, konnte man mit solcher Musik sicherlich eher junge Menschen begeistern als mit Bach und Mozart. Das zweite Musical, welches wir dann sahen, war “Das Phantom der Oper”. Wir waren damals tief beeindruckt von dem, was wir sahen und hörten und hatten gleichzeitig die Erkenntnis, dass man Klassik und moderne Musik beruflich durchaus verbinden kann. Dass sich diese Genres also nicht “weh” tun, wie man von vielen Opernkritikern, die sich zufällig einmal in einem Musical “verirren” ja heute immer noch zu lesen bekommt.

Für meine Frau als ausgebildete Sängerin im Opern- und Konzertfach sowie mich als doch noch recht klassisch angehauchten Pädagogen war das damals sicherlich eine wichtige Erkenntnis. Ich bin dann irgendwann den letzten Schritt gegangen, aus dem Schuldienst ganz ausgestiegen und habe mich freiberuflich niedergelassen, um das tun zu können, was mir einfach Spaß machte. Seitdem konzipiere ich moderne Veranstaltungen, wobei ich modern jetzt bitte nicht als Gegenteil von antiquierten Veranstaltungen verstanden haben will, sondern modern, was Musikauswahl, Themen etc. angeht…

Also im Sinne vom “am Puls der Zeit”?

Richtig. Für mich heißt Tradition nicht konservieren, sondern Traditionen erhalten, aber Modernes dazunehmen, neue Wege gehen, den Abenteurer spielen…

Warum strömen einerseits tausende Jugendliche zu den Castingshows und andererseits sterben Chöre förmlich aus? Eigentlich ein völliger Widerspruch. Ein Grund liegt sicher darin, dass viele Ensembles immer älter werden, es aber nie geschafft haben, sich aktuell und zeitgemäß zu orientieren oder nach neuen Wegen zu suchen. Das ist schade, denn Chöre können so viel mehr sein und sollten nicht auf das typische klassische Chor-Verständnis reduziert werden. Genau da haben meine Frau und ich vor 5 Jahren angesetzt: wir haben einen Chor gegründet, “MusicAl Dente”, um eine offene Lücke auf dem Sektor “moderne Chor-Musik” zu schließen: einen gemischten Chor, der zeitgemäße Musik macht, bissfeste Musical- & Popsongs im Repertoire hat und dazu auch kleine Choreographien einstudiert. Der Erfolg gab und gibt uns nach wie vor recht: Die Mitgliederzahl ist innerhalb von nur 4 Jahren von null auf 103 gestiegen. Das ist gigantisch!

Deine Arbeit mit Jugendchören und anderen Gesangsgruppen kommt unter anderem einer Veranstaltung zugute, die Du vor zwei Jahren ins Leben gerufen hast und die sich seitdem großer Popularität erfreut: “FACES of MUSICAL”. Seit 2012 sind neben Deiner Frau Pia Douwes und Jesper Tydén mit von der Partie; letztes Jahr war außerdem Kevin Tarte zu Gast und in diesem Jahr ergänzte Alex Melcher das Solisten-Quartett. Was macht “FACES of MUSICAL” so einzigartig?

Zum einen stehen mit den von mir geleiteten Chören “Junge Singfonie e.V.”, “MusicAl Dente” und “Singin’ Harmonie” insgesamt fast 150 Sängerinnen und Sänger auf der Bühne: die “MUSICAL VOICES SIEG”. Der Chor “MusicAl Dente” wurde im Prinzip eigens für diese Veranstaltung gegründet. Die Zielsetzung war ja hier von vornherein die Aufführung von ausgewählten Musical-Highlights, am liebsten Originalkompositionen. Dass wir zufällig über Jesper Tydén, den wir damals für ein Konzert verpflichtet hatten, dann fast zeitgleich den Musical-Director des Apollo Theaters in Stuttgart Bernd Steixner kennenlernten, davon hätten wir damals nicht zu träumen gewagt. Neben der wenig später folgenden Zusammenarbeit hat sich daraus bis heute auch eine tolle Freundschaft entwickelt, die sicher nicht unerheblich ist für den Erfolg von “FACES of MUSICAL”.

Für uns beide macht das Einzigartige der Show tatsächlich aus, dass diese gewaltige Anzahl von Sängerinnen und Sängern mitwirkt. Einen vergleichbar großen Chor gibt es eigentlich sonst nur in Tecklenburg. Alle anderen Musicalgalas leben von den Solisten, die dann in der Regel im Zusammenspiel auch das Ensemble stellen. Die Solisten hat “FoM” halt zusätzlich, und zwar wirklich Top-Künstlerinnen und Künstler. Sicherlich einzigartig ist außerdem, dass Laien mit Musicalprofis auf der Bühne stehen. Wir versuchen, die Musicalsongs, die wir sorgfältig auswählen, in einem besonderen Arrangement darzubieten, es gibt kleine Choreographien, die Kostümwahl ist durchdacht… Das Gesamtpaket ist einfach stimmig. Jedenfalls behaupten das die vielen Fans.

Lass uns zurückkommen auf die Zusammenarbeit von Laien und Profis. Das klingt spannend, aber auch anstrengend…

Diese Art von Arbeit ist irrsinnig intensiv. Wenn man eine typische Musicalgala konzipiert, hat man sicherlich einen roten Faden, eine Idee also, ob z.B eine Thematik behandelt werden soll. Daraus ergeben sich dann die Musicalgenres sowie die Songs. Dementsprechend engagiert man letztendlich seine Darstellerinnen und Darsteller und damit steht dann zumindest schon das Gerüst.

Aber im Fall von “FACES of MUSICAL”ist es sowohl für Bernd Steixner und Band als auch für uns, die Verantwortlichen für die Chöre, eine richtige Abenteuerreise. Bevor die Proben beginnen, fragen wir uns im Vorfeld natürlich: Wie wird das Endergebnis aussehen? Schaffen wir es vom Niveau her, die Künstler angemessen zu unterstützen, ihnen eine “glaubwürdige” Begleitung zu sein? Damit eine Revolution beim “Ich weine nicht mehr” [aus “Marie Antoinette”; die Red.] auch wirklich als solche herüberkommt oder die Aggression und Wut über vorenthaltene “Milch” [aus “Elisabeth”; die Red.] nicht ein Luccheni-Ensemble Small-Talk wird. Eine Herausforderung, die die Arbeit unendlich spannend macht und – ich glaube da nicht zu übertreiben – auch meine Frau und mich selbst manchmal an den Rand physischer Belastbarkeit führt!

Neben “FoM” organisierst Du noch andere Veranstaltungen, beispielsweise “A Celebration of Christmas”. 2013 war Chris Murray zu Gast…

… und in diesem Jahr wird am 14. Dezember Kevin Tarte kommen. Das Konzept der Show sieht eine Weihnachtsgeschichte moderner Art vor – mit Bildern, Szenen, Texten, die zum Nachdenken anregen sollen. Wir wollen da nicht in Verniedlichungen und Kitsch abdriften. Daher haben wir “A Celebration of Christmas” eher als Meditation gestaltet und mit Liedern bereichert, die die von einer Schauspielerin gesprochenen Texte noch einmal verstärken sollen. Und das Feedback unserer Besucher ist durchweg positiv, viele Stimmen sagen: “Einfach mal über das Leben nachdenken, innerlich zur Ruhe kommen – das ist eigentlich Weihnachten.”

Wie kam es zu der Idee zu einer solchen Show?

Die Idee dazu hatten wir, als wir in Wien die Ankündigung sahen für eine Weihnachtsshow, die damals von Plácido Domingo maßgeblich geprägt wurde – dort natürlich erheblich größer aufgezogen mit den Wiener Philharmonikern und einer tollen internationalen Starbesetzung. Vom Stil her Richtung Klassik meets Pop. Wir haben diese Show besucht und hatten das Glück, tatsächlich in der dritten Reihe zu sitzen. So konnten wir Weltklasse-Künstler und Orchester aus direkter Nähe sehen und hören – ein beeindruckendes und prägendes Erlebnis. Für mich war es damals besonders interessant, die der Klassik verschriebenen Wiener Philharmoniker einmal im Zusammenspiel mit einer Band zu erleben. Weihnachtslieder aus aller Welt in den unterschiedlichsten rhythmischen Varianten, Musical, Pop, Rock – es war alles dabei. Und trotzdem kam eine tolle weihnachtliche Stimmung auf. Irgendwann kam dann die Idee bei mir auf, ein Weihnachtskonzert in dieser Form, allerdings im ganz kleinen, en miniature, zu konzipieren. Daraus ist dann “A Celebration of Christmas” geworden.

Seit langem greifen wir für die Solisten der Show ebenfalls auf Musicaldarsteller zurück, so dass man sagen kann, dass “A Celebration of Christmas” der direkte Vorläufer von “FACES of MUSICAL” ist. Ein Anliegen ist uns natürlich, immer wieder ausdrucksstarke Solistinnen und Solisten zu engagieren, die vor allem über ein umfangreiches Repertoire aus verschiedenen Bereichen der Musik verfügen. Seit 12 Jahren findet die Show jetzt statt, und zu Gast waren unter anderem bereits Ethan Freeman, Patrick Stanke, Sabrina Weckerlin, Martin Berger u.v.a. – und in diesem Jahr eben Kevin Tarte.

Du hast dafür gesorgt, dass die Top-Stars der Musicalszene die Stadt Hennef kennenlernen und immer wiederkommen. Was nimmst Du aus der Arbeit mit diesen Leuten mit?

Eigentlich immer gute Freundschaften. Egal wer dort war – vor allem aber egal, ob ein Engagement auch schon länger zurückliegt: wir haben zu allen Künstlerinnen und Künstlern über Jahre hinweg Kontakt gehalten und die Freude ist einfach gegenseitig, wenn man sich bei irgendwelchen Premieren oder Shows wiedertrifft. Wenn ich mich im nicht-musikschaffenden Bekanntenkreis umhöre, sind wir Musiker ja alle keine “normalen” Menschen. Wir haben unnormale Arbeitszeiten, ungeregelte Essenszeiten, ständig kaputte Wochenenden und, und, und. Was jedoch der Unterschied zum “normalen” Menschen ist: Wir schwatzen unseren Mitmenschen keine Versicherung auf, wir erteilen keine Genehmigung, verhängen kein Bußgeld und arbeiten keine Anträge ab. Unser Anliegen ist es, Menschen zu erfreuen. Sie für einige Stunden aus ihrem Alltag in eine andere Welt zu holen.

Und ich finde schon, dass man gerade damit auch für sich selbst sehr viele Emotionen mitnimmt. Ich denke, ich spreche nicht für mich alleine, wenn ich behaupte, dass es in unserem Beruf ein ganz anderes, vielleicht ganz besonderes Arbeiten ist. Und das Schöne daran ist, dass man oft nicht so genau weiß, wohin die Reise geht. Man hat zwar ein Konzept, man hat seine Partituren, aber ein Song, eine Show oder ein ganzes Musical entwickelt sich erst durch die Kreativität vieler Verantwortlicher. Für mich ist es z.B. völlig normal, dass ich in jedem Raum einen Block liegen habe, auf dem ich Ideen sofort notieren kann. Das hört man von anderen eben nicht in der Form. Natürlich gibt es die gleichen Probleme wie leider überall in unser Gesellschaft – Stichwort Neid und Missgunst bei großem Erfolg, Druck, Intrigen – man denke nur an die Sparmaßnahmen an vielen Bühnen. Der Kampf um die Rollen – sicher kein leichter. Aber man ist eben unter seinesgleichen und lernt irgendwann, diese Dinge zu vergessen oder auch gemeinsam mit Freunden zu tragen .

Wenn mir auch die Tatsache unserer auf der Bühne geschaffenen Scheinwelten bewusst ist, war und ist Musik mit guten Freunden immer mein Halt, auch wenn es mal ganz schlimm läuft. Dafür war und bin ich sehr dankbar und hoffe, dass es noch einige Jahre so bleibt.

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