Was darf Theater und was darf Theater nicht? Diese Frage stellt sich einmal mehr, nachdem am Theater Trier kurz nach der Premiere eine veränderte “Rent”-Fassung kurzfristig aus dem Spielplan gestrichen wurde und nur noch in Originalfassung gespielt werden darf.
Was war geschehen? Das Theater Trier hatte in seiner Version des Musicals eine neue Rolle eingeführt. Als eine Art Erzählerin sollte “Joanne heute” den Bogen ins Jetzt schlagen.
Viele Zuschauer befürworteten diese Idee des Regisseurs Malte C. Lachmann, andere konnten sich damit nicht anfreunden. So gab es auf Facebook viele Fürsprecher, an anderer Stelle auch deutliche Kritik. Eher kritisch hat diese Version auch unser Rezensent Jens Alsbach gesehen – allerdings nicht wegen der Rolle als solche, sondern weil sie in seinen Augen den Handlungsfluss stört.
Eine Rezension ist dabei immer sachlich, enthält allerdings immer auch eine subjektive Einordnung. Ihr Ziel ist es, interessierten Lesern und Musicalbesuchern eine Einschätzung dessen zu geben, was sie später auf der Bühne erwartet. Eine so grundlegenden Änderung, wie die Schaffung eines neuen Charakters muss daher in einer Rezension auch in seiner Wirkung auf das Originalwerk betrachtet werden.
Diese Rezension nahm der Verlag “Musik und Bühne” (Wiesbaden) als Lizenzgeber zum Anlass, die Aufführung des Stücks kurzfristig zu unterbinden, ohne sich das Stück selbst vorab angesehen zu haben. Hätte der Verlag dies vorher tun müssen? Auch wenn es für alle Beteiligten und Fans bitter ist: Nein, das hätte er nicht, denn das Verbot fußt nicht auf der Annahme einer mangelnden Qualität der Aufführung, sondern einzig darauf, dass unzulässig und entgegen geschlossener Verträge zwischen Verlag und Theater die Handlung des Stücks verändert wurde.
Bleibt die Frage: Was darf Theater und was darf Theater nicht?
Sachlich gesehen darf ein Theater natürlich nichts tun, was gegen einen geschlossenen Vertrag oder eine erteilte Lizenz verstößt. Im vorliegenden Fall hat das Theater mit dem Einfügen einer neuen Rolle das Originalwerk unzulässig verändert. Dieser Vorstoß ist mutig, birgt allerdings auch die Gefahr eines Lizenzentzugs – der in diesem Fall nur durch die Rückkehr zum Originalwerk abgewendet werden konnte.
Daraus ergibt sich allerdings die viel wichtigere Frage: Wie sinnvoll ist es, Inszenierungen per Vertrag mehr oder weniger dicht am Original zu halten?
Theater und Musical lebt davon, dass es sich immer wieder selbst erneuert. Dazu zählen kreative Schaffensprozesse und der Mut, etwas Neues zu probieren. Das Theater Trier hat künstlerisch alles richtig gemacht: Es hatte den Mut, den 20 Jahre alten Stoff des Musicals zu erweitern und für sich zu verjüngen. Diese Änderung muss nicht jedem gefallen, auch unserem Rezensenten nicht, aber sie hat dennoch ihre Daseinsberechtigung. Vielleicht hätten sich Verlag und Theater hier früher an einen Tisch setzen und die neue Idee der Inszenierung besprechen müssen. Vielleicht hätte der Verlag dies abgelehnt, vielleicht auch nicht.
Denn seien wir ehrlich: Je freier eine Inszenierung wird, desto spannender kann sie auch für die Zuschauer werden. Wo, wenn nicht auf der Bühne, ist Raum für den experimentellen Umgang mit textlichen und musikalischen Stoffen? Kann eine Verjüngung oder neuartige Interpretation eines Stücks nicht auch neue Facetten aus dem Stoff herauskitzeln und gilt nicht allgemein: Ist ein neu interpretiertes Stück gut, dann wird es häufiger gespielt, trifft es den Geschmack der Zuschauer nicht, verschwindet es in der Versenkung?
Was also verlieren Verlage und Autoren, wenn Sie ihre Werke auch für neuartige Interpretationen freigeben? Ihr Original, ihre Geschichte und Ihre Idee bleibt erhalten, wird viel mehr noch weiter transportiert. Vielleicht müsste auch nur der Name des Stückes angepasst werden (wie beispielsweise bei der West End-Version “Rent Remixed” oder dem reduzierten “Jekyll & Hyde Resurrection”)? Schon aus Respekt vor dem geistigen Eigentum der Autoren ist dazu natürlich in erster Linie Kommunikation und Abstimmung im Vorfeld notwendig – wenn sich dann alle Seiten darauf einlassen, gewinnen nicht nur die Beteiligten und die Zuschauer, sondern auch das Genre Musical an sich.
Wer heute in die Oper geht, der weiß, wie frei hier inszeniert werden kann. Nun sind die meisten Autoren klassischer bedeutender Opern bereits lange tot und ihre Werke sind zum Allgemeingut geworden. Aber müssen wir so lange warten? Können wir neuartige Inszenierungen eines Stoffs nicht als Anregung sehen, neue Impulse zu setzen, den Blick auf andere Details des gleichen Themas zu lenken, neue Zuschauergruppen anzusprechen – und ihnen im Namen der Kunst eine Chance geben?
Ein Musical muss nie allen gefallen – aber würde es dem Genre nicht guttun, wenn wir ihm die Freiheit geben, sich weiter zu entfalten, statt sich nur immer wieder zu kopieren?