“Mary Poppins Rückkehr” ist viel, viel besser als zu erwarten war – zu oft schon haben Fortsetzungen berühmter Filme enttäuscht. Der Originalfilm aus dem Jahr 1964 stellt immerhin eines der größten Heiligtümer im Disney-Kanon dar, dementsprechend behutsam hat der Konzern agiert: Im Grunde genommen ist dieses Sequel, wenn auch angereichert um neue Episoden und Figuren aus den Romanen von P.L. Travers, ein gefühltes Remake.
Sein außerordentlich gutes Funktionieren in der Nachfolge des Stand-alone-Klassikers verdankt der Film vor allem einer großartigen Emily Blunt, der das Kunststück gelingt, in einem Mary-Poppins-Film Julie Andrews nicht vermissen zu lassen. Es ist schlichtweg hinreißend, mit welch großem Selbstbewusstsein sie sich diesem ikonischen Rollenporträt stellt und eine eigene Version der magischen Nanny kreiert, der man nur schwerlich widerstehen kann: sie ist zutiefst eitel, enervierend bestimmend, durchaus aufgeschlossen für exzentrische Vorlieben und eben auch voller Herzenswärme. Diese ist unterlegt von einer bittersüßen Schwere, die sich aus ihrem wohl lebenslangen Auftrag speist, den nur sie kennt, vielleicht auch noch Bert. Der spielt jedoch nicht mit, wohl aber Jack, der wiederum Bert kennt und daher um Mary Poppins’ Magie weiß.
Dass Jack von Lin-Manuel Miranda verkörpert wird, dürfte an den Kinokassen im anglo-amerikanischen Raum einen weitaus größeren Effekt erzielen als hierzulande, wo der ‘Hamilton’-Macher nahezu unbekannt ist. In diesem Film sind vor allem die bühnendarstellerischen Fähigkeiten des Alleskönners gefragt, der als singender und tanzender Laternenanzünder mit viel schelmischen Augenzwinkern einen durchweg sympathischen Mary-Poppins-Begleiter gibt, dem die Herzen der Zuschauer zufliegen werden. Insofern also alles wie bei Bert, mit dem er seinen grenzenlosen Optimismus teilt, neu ist hingegen, dass er Gefallen an Jane findet.
Buchautor David Magee (“Finding Neverland”) hat das Sequel etwa 25 Jahre nach der Handlung des Originalfilms angesiedelt und damit die Geschichte dahin zurückgebracht, in der auch die Originalbücher spielen, in die Zeit der Großen Depression. Während im Originalfilm die Banks-Kinder Jane und Michael vor allem mit den Widrigkeiten von gelangweilten Wohlstandsgören zu kämpfen hatten, sehen sich Michaels Kinder Annabel, John und Georgie mit einem tragischen Familienschicksal konfrontiert, da ihre Mutter vor einem Jahr gestorben ist. Jane steht ihrem Bruder in dieser schweren Phase bei, soweit ihr politisches Engagement (da schlägt sie ganz nach Winifred) Zeit dafür lässt. Hinzu kommt, dass durch die intriganten Machenschaften von Bankmanager Mr. Wilkins die Familie ihr Haus in der Cherry Tree Lane zu verlieren droht. Michael ist so hilflos, wie es einst sein Vater George war – Mary Poppins muss es wieder einmal richten.
Und hierzu nutzt sie wieder einmal das – im wahrsten Sinne des Wortes – Abtauchen in Fantasiewelten, die aus für Kinder lästige Alltagsbeschäftigungen wie das tägliche Bad atemberaubende Abenteuer machen. Ein bisschen von dem magischen Badezusatz in die Wanne und schwupps, schon schnattert der Flipper-Tümmler fröhlich über den Badewannenrand. Bei der sich anschließenden ans Psychedelische grenzenden Unterwasserszene handelt es sich um das inhaltliche Äquivalent zu dem aus Kindersicht völlig langweiligen Spaziergang im Park, der im Originalfilm zu einem unvergesslichen Abenteuer wurde.
Eine wahre Freude ist das Wiedersehen mit den Pinguinen, die Bestandteil einer Sequenz sind, die auf der Oberfläche einer gebrochenen Porzellanschale angesiedelt ist. Einer der Höhepunkte des Films und gleichzeitig eine hinreißende Werkschau von Produktionsdesign, Kostüm und Animation: Die Pinguine sind als ein Akt der Verbeugung vor dem Original liebevoll von Hand gezeichnet und zusammen mit den Darstellern in eine am Computer entstandene Welt eingebettet, die in Sachen Bildgewalt, Perspektive und Rasanz alles bietet, was die heutige Technik hergibt. Zudem gibt es in dieser Sequenz eine Szene, bei der es sich hinsichtlich der Hauptfigur um die spannendste in dem Film handelt, denn hier lernt man eine gänzlich neue Seite von Mary Poppins kennen: Wenn es die Gelegenheit gibt, wird aus der ansonsten so reservierten Lady nämlich auch gerne mal ein exaltiertes und ausgelassen performendes Showgirl. Dass ihre Bühnenfrisur in dieser Szene nahezu identisch mit der von Catherine Zeta-Jones in der ‘Chicago’-Verfilmung ist, mag eine Reminiszenz von Regisseur Rob Marshall an seinen Filmmusical-Erstling sein.
Leider konnte der Regisseur auch an anderen Stellen einfach nicht der Versuchung widerstehen, sich an ikonische Filmszenen anzulehnen. So gibt es eine Fahrrad-Szene, die nur allzu sehr an die BMX-Stunts von “E.T.” erinnert – man wartet förmlich darauf, dass die losgetretene Armada von Laternenanzündern gleich in Richtung Nachthimmel entschwebt und sich dort vor dem leuchtenden Umriss des Glockenturms Big Ben als Schattenbild verewigt – glücklicherweise tun sie es dann doch nicht. Diese Anspielungen sind so unnötig wie sie im Mary-Poppins-Kosmos auch deplatziert wirken. Von diesen kleineren Ausrutschern abgesehen ist seine Regiearbeit jedoch sehr geschmackssicher und zeichnet sich vor allem durch einen behutsamen und jederzeit respektvollen Umgang mit dem Originalfilm aus, dessen Grundton er sehr gut trifft und auf eine wunderbar nostalgische Weise wiederbelebt. Dass der frühere Choreograf Marshall zudem die Kunstform Musical liebt, wird vor allem bei “Trip a Little Light Fantastic” mehr als deutlich, bei der er weitgehend auf die im Film zur Verfügung stehenden Mittel verzichtet, sondern die ausufernd choreografierte Szene wie eine von der Theaterbühne abgefilmte Showstopper-Broadwaynummer inszeniert.
Große Broadwayerfahrung bringen auch Komponist Marc Shaiman und Songtexter Scott Wittman mit, die u.a. die Werke “Hairspray” und “Catch Me If You Can” geschrieben haben. Neben Emily Blunt tritt das Autorenteam sicherlich in die größten Fußstapfen, die das an unsterblichen Songs überreiche Original hinterlassen hat. Leider erweist sich das Werk der Sherman-Brüder doch als zu mächtig, um diese ebenbürtig auszufüllen: “(Underneath the) Lovely London Sky” etwa verfügt nicht über die seltsam beglückende Schwermut von “Chim Chim Cher-ee” und “Trip a Little Light Fantastic” entfaltet nicht die unwiderstehliche Sogkraft, wie sie eine Nummer wie “Step in Time” zu entfachen wusste. Einzig “The Place Where Lost Things Go” lässt aufhorchen. Das musikalische Äquivalent zu “Stay Awake” aus dem Original überzeugt vor allem durch seinen wehmütig sensiblen Text, mit dem Mary Poppins Michaels Kindern klar macht, dass sie ihre Mutter nicht wirklich verloren haben. Das Herzzerreißende an der Szene ist, dass man Mary Poppins wirklich bis hinter den Mond folgen würde, um dort nach verlorenen Herzensdingen zu suchen. Oscarverdächtig! Aber auch wenn die Partitur absolut prächtig instrumentiert ist und in jeder Szene tadellos funktioniert, so fehlt es in kompositorischer Hinsicht den meisten Songs jedoch an einer zwingenden Eigenständigkeit, um sich tatsächlich ins Ohr zu brennen. Unterm Strich bleibt daher die Frage, ob das Autorenteam George Stiles und Anthony Drewe, das hervorragendes neues Songmaterial für die Bühnenfassung von “Mary Poppins” geschrieben hat, nicht vielleicht doch die bessere Wahl gewesen wäre.
Die schauspielerischen Leistungen indes sind famos: Dies gilt für Emily Mortimer als Jane ebenso wie für Julie Walters, die die Haushälterin Ellen mit wurstiger Genervtheit gibt und natürlich auch für Meryl Streep in der Rolle von Mary Poppins’ exzentrischer Cousine Topsy. Colin Firth gibt William Weatherall Wilkins als Wolf im Schafspelz – von ihm hätte man gerne noch mehr gesehen, doch leider hinterlässt sein Zeichentrick-Pendant aus der Porzellanschüssel-Sequenz einen bleibenderen Eindruck als er selbst. Pixie Davies als Annabel, Nathanael Saleh als John und Joel Dawson als Georgie sind tolle und rundweg sympathische Banks-Kinder. Sogar ein Wiedersehen mit Dick Van Dyke gibt es, der einen herzerfrischenden Cameo-Auftritt hat. Und am Ende ist da eine Ballon-Frau, die Angela Lansbury spielt …
Ebenfalls großartig ist die intensive Darstellung von Ben Whishaw als Michael, der zu Beginn des Films desillusioniert seinen alten “Let’s Go Fly a Kite”-Drachen zum Müll gibt. Die fantastische Mary-Poppins-Welt erschließt sich bis zum Schluss nur Jack und den Kindern, doch mit Hilfe der Ballon-Frau entdeckt Michael schließlich wieder das verloren geglaubte Kind in sich. So sorgenvoll eingetrübt der Himmel über der Cherry Tree Lane am Anfang ist, so strahlend blau zeigt er sich am Ende dieser fast durchweg gelungenen Mary-Poppins-Fortsetzung. Dieser unvergesslich launig in Szene gesetzte Moment der Schwerelosigkeit lässt einem das Herz aufgehen und macht aus diesem Film bereits jetzt einen Klassiker.
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