Corey Hawkins (Benny) und Leslie Grace (Nina) © Warner Bros. Entertainment Inc., Macall Polay
Corey Hawkins (Benny) und Leslie Grace (Nina) © Warner Bros. Entertainment Inc., Macall Polay

In the Heights
Film / 2021

New York, der Norden von Manhattan, Washington Heights. Hier betreibt Usnavi ein kleines Lebensmittelgeschäft. Sein Traum ist es, in die Dominikanische Republik zurückzukehren, die er als Kind mit seinen Eltern verlassen hat. Vanessa träumt von einer Modedesigner-Karriere in einem angesagteren Stadtteil. Nina muss den Traum ihres Vaters vom sozialen Aufstieg leben. “In the Heights” entfächert ein Kaleidoskop menschlicher Sehnsüchte, Ängste und Träume in einem lateinamerikanisch geprägten New Yorker Stadtteil, der Gefahr läuft, einfach zu verschwinden. Aber noch sind die Straßen wie aus Musik gemacht, das Leben pulsiert rhythmisch, selbst die Kanaldeckel sind eigentlich scratchende Plattenteller und in Danielas Schönheitssalon wippen sogar die Perücken im Takt dazu …

Die Verfilmung seines mit vier Tony Awards ausgezeichneten Erstlingswerkes entwickelt sich allmählich zu einem echten Problemkind für Lin-Manuel Miranda. Der Broadway, Hollywood, der liberal-demokratische Teil der amerikanischen Gesellschaft und – für einen Unterhaltungskünstler fast noch wichtiger – selbst Disney, alle lagen dem Alleskönner zu Füßen. Aufeinmal jedoch hagelt es Kritik und – für einen Unterhaltungskünstler fast noch schlimmer: “In the Heights” entwickelt sich zu einem veritablen Flop, was empfindlich an seinem bislang unumstrittenen Nimbus der Unfehlbarkeit kratzt. Jetzt machen ihm die Geister, die er mit seinem Jahrhundertwerk “Hamilton” rief, das Leben schwer. Die bestehen insbesondere aus den riesigen Erwartungshaltungen, die an ihn herangetragen werden, vor allem, was die Übernahme von Verantwortung anbetrifft.

Die Filmadaption löste unmittelbar nach der USA-Premiere im Kino und beim Streaming-Dienst HBO Max eine Debatte über die Unterrepräsentanz von dunkelhäutigen Latinos in dem nun filmgewordenen Denkmal über ein Viertel von New York aus, dessen tatsächliches Straßenbild in der Mehrheit von Afro-Latinos bestimmt wird. Den Verantwortlichen und natürlich zuvorderst Miranda wird unterstellt, inzwischen selbst Teil des Systems geworden zu sein, in dem eigentlich nur hellhäutige Latinos wie etwa Jennifer Lopez oder Gisele Bündchen gewünscht sind, weil man mit derlei hellhäutiger Latino-Präsenz ein Produkt besser verkaufen könne.

Wahrscheinlich war es nicht klug, dass Miranda und auch Hauptdarsteller Anthony Ramos vor der Premiere davon sprachen, dass “wir noch nie so einen Film hatten” – gemeint war damit ein leidenschaftliches Identifikationsobjekt für die US-amerikanische Latino-Community. Regisseur Jon M. Chu wurde nicht zuletzt deswegen engagiert, weil er mit der Romanverfilmung “Crazy Rich” eben jenes bereits für die asiatischstämmige Community geleistet hatte. Umso größer fielen dann die Enttäuschung und die einhergehenden Vorwürfe des Whitewashings aus. Miranda hat sich zwischenzeitlich per Twitter entschuldigt und sein Verständnis für die Kritik zum Ausdruck gebracht. Es ist unklar, ob diese Debatte auch dafür gesorgt hat, dass sich der Film weder an der Kinokasse noch beim Streaming durchsetzen konnte. Derzeit ist der Film weit davon entfernt, seine Kosten wieder einzuspielen.

Lässt man jedoch die Besetzungspolitik und die damit verbundene Debatte außer Acht, so ist jeder einzelnen Minute des Films die Leidenschaft und Passion für das Genre Musical und für die Figuren der Geschichte anzusehen und anzuhören. Oder anders ausgedrückt: Alles, was viele Filmadaptionen von Bühnenmusicals bisher falsch gemacht haben, macht “In the Heights” richtig. Es gibt keine Stars, die man nur fürs Kinoplakat und den Box-Office-Erfolg verpflichtet hat, um sie dann mit Ach und Krach zu tolerablen Gesangsdarbietungen zu trimmen, die im Ergebnis jedoch inakzeptabel weit weg sind von den gesanglichen Leistungen, die man von den Bühnenfassungen kennt. Jeder einzelne Lead-Charakter in diesem Film singt und spielt fantastisch!

Zudem wurde ein ausgewogenes Verhältnis dafür gefunden, das Stück in seinem ursprünglichen Kern unangetastet zu lassen, es aber gleichzeitig zu aktualisieren, neu auszurichten und für das Medium Film zu transformieren. Der Film ist eben keine abgefilmte Bühnenfassung, sondern ein eigenes künstlerisches Werk, das sich ganz und gar auf das Genre Film einlässt. Und: “In the Heights” ist ein von sich selbst überzeugtes, kraftvolles und thematisch zeitgemäßes Bekenntnis zum klassischen Musical, ohne es bedeutungsschwer zu überfrachten oder tagesaktuell in Frage zu stellen.

Der Film ist ein üppiges, dralles Filmmusical, wie man es schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat. Im Grunde genommen bleibt kein Wunsch offen, selbst die Liebhaber von Esther-Williams-Wasserballett-Choreografien werden bedient. Hoffentlich ist es nicht diese ausgesprochen offen zur Schau getragene Liebe zum althergebrachten Musical, die den Film an der Kasse scheitern lässt. Die US-amerikanischen Einspielergebnisse lassen derzeit darauf schließen, dass der Film dort eigentlich nur bei der interessierten Kernzielgruppe angekommen ist. Hoffen wir, dass es nicht so bleibt, denn sonst steht zu befürchten, dass zukünftig wieder die Russell Crowes der Zunft ans Mikro gelassen werden …

Zwei Nummern aus dem Film kann man schon jetzt und ohne weitere Umschweife ins Museum stellen, denn beide wird man noch sehr lange Zeit heranziehen, um anhand ihrer Beispielhaftigkeit die Entwicklung des Filmmusicals zu erläutern. Die eine ist “96,000”, die als Wiederentdeckung der großen pompösen Produktionsnummer beweist, dass diese auch mit zeitgenössischer Musik funktioniert. Die andere ist “Paciencia y Fé”, bei der die Matriarchin Abuela Claudia mit bitterem Unterton auf ihr entbehrungsreiches Leben als Einwanderin in einem Land zurückblickt, das für sie keinen amerikanischen Traum auf der Agenda hatte. Eine unfassbar beeindruckende Arie für das Musiktheater von heute und eine Glanzleistung von Regisseur Jon M. Chu und Choreograf Christopher Scott, die den Song in einer echten U-Bahn-Station in einem zeitgenössischen Ballettstil in Szene setzten und von Olga Merediz, die die Rolle bereits für die Broadway-Fassung kreierte und auch hier wieder mit einer zutiefst intensiven Darbietung berührt. Das sind Szenen, die bleiben.

Aber der Film hält viele Höhepunkte bereit, so auch eine Verneigung vor der “West Side Story”, bei der ein Balkon in Szene gesetzt wird und sich zu dem Song “When the Sun Goes Down” ein faszinierendes Spiel mit Perspektiven und Schwerkraft entwickelt. Im Hintergrund als Kulisse stets dabei: Die George-Washington-Brücke, die über den Hudson River führt (“Hamilton”-Fans erinnern sich: zur Zeit der Gründerväter musste der Fluss noch mittels Ruderboot durchquert werden) und omnipräsent den Wunsch nach Flucht und Aufstiegsmobilität symbolisiert. Für Daniela und ihren pulsierenden Schönheitssalon erfüllt sich dieser Traum nicht: Die Gentrifizierung vertreibt sie in die Bronx. Bevor sie geht, initiiert sie noch ein letztes explosiv-fröhliches Fest. Die großartige Daphne Rubin-Vega zelebriert dabei als Zeremonienmeisterin den “Carnaval del Barrio”.

Dass diese Szene nun nach dem Tod von Abuela Claudia angesiedelt ist, ist die einzige etwas unglückliche Handlungsänderung gegenüber der Bühnenfassung: Es ist eher unwahrscheinlich, dass das Viertel nach dem Tod der beliebten Matriarchin so ausgelassen feiert.

Die anderen Änderungen bereichern den Film: So etwa, dass es nicht nur finanzielle Probleme sind, die Nina dazu bewegen, ihr Studium in Stanford abzubrechen. Im Film wird sie an der Elite-Uni mit offener Nicht-Akzeptanz und rassistischen Anfeindungen konfrontiert. Auch die Einbeziehung der “Dreamer”-Thematik – Sonny ist im Film ein Kind illegaler Einwanderer, was ihn jedweder Zukunft beraubt – schärft gegenüber der Bühnenfassung das Migrationsthema.

Neben dem Herausschreiben von Ninas Mutter, die im Film verstorben ist, fällt zudem vor allem die Schwerpunktverlagerung der beiden Liebesgeschichten auf: Während der Fokus der Bühnenhandlung eindeutig auf Nina und Benny lag, sind es im Film Usnavi und Vanessa, die die Filmhandlung emotional tragen. So sind es auch Anthony Ramos in der Hauptrolle des Erzählers Usnavi und Melissa Barrera als Vanessa, die die Glanzpunkte setzen und als Gesichter und Stimmen des Films haften bleiben. Anthony Ramos dürfte nach diesem Film eine große Karriere bevorstehen, die nicht zwangsläufig auf seinem Gesangstalent aufgebaut sein muss, denn das, was er auch schauspielerisch abliefert, ist eine Klasse für sich.

Natürlich wäre es ungerecht, die Qualität von “In the Heights” mit der von “Hamilton” zu vergleichen. Was niemanden davon abhält, es trotzdem zu tun. Dabei fallen vor allem das ein oder andere immer noch vorhandene Plotloch auf oder auch nicht konsequent zu Ende gedachte Konflikte. Das Buchproblem lässt sich am besten anhand des Songs “Piragua” beschreiben, den die Geschichte nicht braucht, der aber als Song einfach toll ist. Auch in dieser Hinsicht funktioniert das Stück eben wie ein Musical aus vergangenen Tagen.

Bei den eher distanzlos inszenierten Fähnchen-Schwenkereien, mit denen noch nie, egal mit welcher Fahne, ein Problem gelöst werden konnte, muss man zudem in sich aufkommende Ambivalenzen wegdrücken und derlei patriotische Begeisterungsfähigkeit schlicht als einen unreflektierten Ausdruck für die innere Zerrissenheit der Figuren zwischen Assimilation und Herkunftsidentität akzeptieren und begreifen.

Sieht man jedoch von all dem ab, lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass “In the Heights” der beste Musicalfilm seit langer Zeit ist.

 

 
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