Ingos Fernsehsessel - "Rent"

Einmal pro Monat werde ich mich in meinen Fernsehsessel setzen und mir für euch einen Musicalfilm ansehen. Da werden bekannte Streifen dabei sein, aber auch Unbekanntes oder Vergessenes.

Ich habe es mir wieder in meinem Fernsehsessel gemütlich gemacht und diesmal die Verfilmung eines stilprägenden Musicals ausgesucht: “Rent” von 2005.

Als Bühnenmusical war “Rent” bei der Uraufführung 1996 schon eine kleine Revolution. Es geht recht unverkrampft mit AIDS und LGBT-Themen um und trotz einiger zarter Balladen rockt Jonathan Larsons Partitur ganz ordentlich. Besonders das Thema AIDS wurde aus der rein homosexuellen Ecke geholt, denn hier sind auch Heterosexuelle HIV-positiv. Allerdings sind bzw. waren die betroffenen Charaktere drogenabhängig – also der Beigeschmack eines gesellschaftlich geächteten Makels bleibt.

Immer wieder mal lese ich, “Rent” sei heutzutage veraltet und sei es auch schon bei der Premiere des Films gewesen. Ja, nicht jeder Song ist gut gealtert und heute hat die Diagnose HIV-positiv nicht mehr zwangsläufig dieselben gesundheitlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen wie zur Entstehungszeit des Stücks. Aber auch in “La Bohème” – der Puccini-Oper, auf der “Rent” basiert, ihrerseits wiederum eine Adaption des Romans “Scènes de la vie bohème” von Henri Murger – leidet Mimi an einer Krankheit, über die sich heute kaum noch jemand Gedanken macht – Tuberkulose. Und niemand sagt, dass dieses Werk deshalb nicht mehr den aktuellen Gegebenheiten entspricht und man sich eine Aufführung gut überlegen sollte.

Doch zur filmischen Umsetzung: Anders als das Bühnenstück startet die Verfilmung in einem leeren Theater, wo das Ensemble am Bühnenrand stehend “Seasons of Love” singt. Inhaltlich keine schlechte Idee, denn der Text fasst – etwas verschlüsselt – die Handlung zusammen. Mir ist dieser Einstieg zu statisch.
Die Verbindung zum ersten Song “Rent” sind dann Super-8-Bilder, die Mark für seinen Dokumentarfilm gedreht hat, darunter ein Off-Text zu seinem Filmprojekt. Da finde ich den originalen Einstieg knackiger, bei dem Mark sich selbst filmt, in seine Kamera spricht und die Zuschauer dadurch erfahren, wo wir uns zeitlich befinden (Weihnachten 1991) und wer der Gitarre spielende Mann da neben Mark ist, und man über ihre momentane Situation durch Nachrichten auf dem Anrufbeantworter informiert wird. Ja, das ist theaterhafter, gefällt mir aber trotzdem besser – und ich mag das schiefe zweistimmige “Speeeaaak!”.

Dafür wird direkt danach die Nummer “Rent” ziemlich aufgeblasen. Immer mehr East-Village-Bewohner stimmen wütend in den fragenden Ruf “How we gonna pay last year’s rent?” ein und schwenken so drohend brennende Fackeln, dass ich fast erwartet habe, ein Lynchmob bricht los und stürzt sich blutdürstig auf den Vermieter.

Regisseur Chris Columbus ist bekannt für gefällige Familienunterhaltung. Er hat beispielsweise “Mrs. Doubtfire” und die ersten beiden “Harry Potter”-Filme gedreht. Vielleicht entspricht auch die Optik des “Rent”-Films deshalb gängig glatter Hollywood-Kost. Die angeblich prekären Verhältnisse, in denen man hier lebt, haben etwas künstlich-steriles. Die punktgenau platzierte Obdachlosen-Statisterie am Straßenrand wirkt offensichtlich verkleidet. Ihr geht jede Natürlichkeit ab. Das Apartment von Mark und Roger ist so schick ausgeleuchtet, dass es niemals wirkt, als lebten sie am Existenzminimum, und bei “What You Own” läuft Adam Pascal durch die Wüste wie Jon Bon Jovi in einem Musikvideo.

Dafür ist die musikalische Seite wirklich fein. Das Ensemble setzt sich fast 1:1 aus dem Broadway-Cast zusammen, nur zwei Darstellerinnen fehlen: Fredi Walker-Browne fand sich mittlerweile zu alt für die Rolle der Joanne und Daphne Rubin-Vega war schwanger. Die Rolle der Mimi wurde mit Rosario Dawson besetzt. Sie macht ihre Sache prinzipiell gut, besonders ihre Tanzeinlagen beim Auftritt im Club “Cat Scratch” sind mehr als beachtlich, und sie wirkt wirklich krank und fertig. Aber es fehlt leider jede emotionale Verbindung zwischen ihr und Adam Pascal als Roger. Beide sind HIV-positiv und wollen es dem jeweils anderen nicht sagen. Da kann Jonathan Larson ein noch so schön drängendes, ständig wiederkehrendes “I should tell you” als innere Monologe komponieren, es funkt einfach nicht zwischen den beiden. So wird denn die emotionale Achtbahnfahrt des Liebes-Hin-und-Hers zwischen Mimi und Roger im Text behauptet, aber mich hat es völlig kalt gelassen. Da haben mich die eifersüchtigen Streits zwischen Idina Menzel (Maureen) und Tracie Thoms (Joanne) und die tragisch endende Liebe von Wilson Jermaine Heredia (Angel) und Jesse L. Martin (Tom) mehr überzeugt und berührt.
Das Ende finde ich schon im Original recht unglaubhaft. Da mag ich den tragischen Schluss von Oper und Roman doch lieber.

“Rent” hat mich etwas unbefriedigt in meinem Fernsehsessel zurückgelassen. Es gibt einige tolle Momente, etwa das zwar vorlagenbedingt bühnenhafte, aber von Idina Menzel stark interpretierte “Over the Moon” oder auch Angels und Toms unbeschwerter Tanz auf der Straße bei “I’ll Cover You”. Andere Szenen fand ich dagegen verschenkt, wie die provokante ausgelassene Party in “La Vie Bohème”, die unspontan und einstudiert daherkommt.
Vielleicht hätte ein etwas mutigerer Regisseur mehr herausholen können. Trotzdem war es schön, “Rent” nach langer Zeit mal wieder gesehen zu haben. Und ich habe jetzt Lust, es mal wieder live zu erleben.

 
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