Courtesy of Amazon Studios
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Ingos Fernsehsessel - "Everybody's Talking About Jamie"

Einmal pro Monat werde ich mich in meinen Fernsehsessel setzen und mir für euch einen Musicalfilm ansehen. Da werden bekannte Streifen dabei sein, aber auch Unbekanntes oder Vergessenes.

“Diese Geschichte ist wirklich passiert. Dann haben wir Gesang und Tanz hinzugefügt”, heißt es zu Beginn des Films. Das erfolgreiche West-End-Musical basiert auf der BBC-Doku “Jamie: Drag Queen at 16”. Mit dem Titel ist auch schon der Inhalt grob umrissen: Der 16-jährige Jamie hat einen Traumberuf – Dragqueen. Deswegen möchte er im entsprechenden Outfit zum Abschlussball gehen und sein Coming Out zelebrieren. Das ist in der britischen Arbeiterstadt Sheffield nicht gängig.

Es ist die gute alte “Folge deinem Traum und sei wer du bist!”-Geschichte; ein emotionales Sozialdrama, wie es das britische Kino so perfekt beherrscht. Jamie lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter Margaret in einfachen Verhältnissen. Der Vater hat sie verlassen, weil er einen “richtigen Sohn” haben wollte und mit Jamies schon als Kind offensichtlicher Homosexualität nicht zurechtkam. Margaret gaukelt Jamie weiter vor, dass der Vater sich meldet, zum Geburtstag etwa ein Geschenk schickt, aber dann immer kurzfristig absagen muss. Dass Jamie sich scheinbar nie wundert, dass das regelmäßig passiert und der Vater auch nie persönlich mit ihm Kontakt aufnimmt, ist eine der Schwächen des nicht immer überzeugenden Buchs.

Ich habe die Londoner Produktion nicht gesehen, kannte aber die Cast-Aufnahme und war erst mal verwirrt, dass der Film mit einem Song beginnt, der nicht aus der Bühnenshow stammt: “Everything”. Filmisch macht dieser Einstieg Sinn, denn wir sehen eine Montage aus Szenen, die den Alltag von Jamie und seiner Mutter umreißen und in der Show gibt es keinen entsprechenden Song. Verwirrt hat es mich trotzdem, denn “Everything” läuft im Hintergrund, und klingt nach R&B-Soundtrack-Dutzendware – auch wenn die Lyrics zur Handlung passen und der Song vom originalen Autor-Komponisten-Duo Tom MacRae und Dan Gillespie Sells stammt. Erst danach sind wir in der Schule, wo das Bühnenstück einsetzt. Der Song “And You Don‘t Even Know It” ist dann auch abgeändert. Man verlässt die Enge des Klassenzimmers, um in Jamies Traumwelt einzutauchen, in einen Drag-Club mit aufwendigen Kostümen, Glitter und Discokugel. Die Änderung ist aus filmischen Gründen nachvollziehbar. Alle Songs bis zu Jamies erstem Dragqueen-Auftritt sind innere Monologe oder Traumsequenzen, erst danach sind sie Bestandteil der “realen Welt”. Das fand ich schlüssig und hat mir gefallen.

Insgesamt wurden fünf Titel und diverse Reprisen gestrichen, ein handlungstragender kam dazu – dazu gleich mehr – und es tauchen im Hintergrund Songs auf, gesungen etwa von Sophie Ellis-Bextor und Chaka Khan, die bis auf einen ebenfalls von MacRae und Gillespie Sells stammen. Bei Verfilmungen sind Kürzungen normal, aber ich bin trotzdem drüber gestolpert, Songs zu hören, die nicht aus der Show stammen.

“The Legend of Loco Channelle (and the Blood Red Dress)”, das große Solo von Hugo, einer alternden Dragqueen, Inhaber eines Drag-Shops und Jamies Mentor – eine starke Nummer im pompösen Stil der 1970er Jahre – wurde gegen “This Was Me” ausgetauscht. Musikalisch finde ich “The Legend” stärker und bühnenwirksamer, dafür macht “This Was Me” inhaltlich Sinn, denn es erzählt von Hugos Vergangenheit im London der 1980er Jahre mit AIDS und Gay-Rights-Protesten. Als Hommage daran singt nicht nur der Hugo-Darsteller Richard E. Grant, sondern wir hören auch Holly Johnson, Sänger von “Frankie Goes to Hollywood”, einer prägenden Band dieser Ära. Dazu zeigt Hugo Videoaufnahmen aus dieser Zeit, in die Jamie wortwörtlich eintaucht. Eine tolle Sequenz, ebenso gelungen wie Jamies Interaktion mit seinem Kinder-Ich bei “Wall in My Head”!

Das Ensemble kann sich mehr als sehen lassen. Lauren Patel überzeugt als Pritti, Jamies beste Freundin. Als kopftuchtragende Muslima gehört sie genau wie Jamie zu den Außenseitern. Dass sie insgeheim in ihn verliebt ist, wird subtil in kleinen Blicken und Gesten angedeutet. Richard E. Grant hat die dünnste Gesangsstimme der Darstellerriege, aber er wirft sich voller Energie in die dankbare Rolle des Hugo. Sarah Lancashire, hierzulande nahezu unbekannt, in Großbritannien ein TV- und Theaterstar (Krimi-Fans sei die Serie “Happy Valley” dringend ans Herz gelegt), ist als Jamies Mutter einfach großartig. Emotional, hilflos, ruppig – sie zieht alle schauspielerischen Register. Ihr Solo “He’s My Boy” (ein Zitat der echten Margaret aus der Doku) ist ein stark gesungener, klassischer Showstopper.

Max Harwood gibt in der Titelrolle sein Debüt. Er singt und tanzt hervorragend, spielt Jamie zwischen großkotzig und verletzlich. Da sind wir jetzt allerdings bei einem Problem des Films: Mir wurde Jamie im Verlauf immer unsympathischer. Positiv fand ich, dass er aus seinem Schwulsein keinen Hehl macht, nicht mit seiner femininen Seite hadert und Mobbing selbstbewusst entgegentritt. Aber er ist gehörig egozentrisch und narzisstisch, was sich nach seinem erfolgreichen ersten Auftritt als Mimi Me noch verstärkt. Auch die Lehrerin Miss Hedge blieb mir fremd. Sharon Horgan spielt sie nicht komplett unsympathisch, dadurch wirkt ihr Charakter unentschlossen. Anfangs schien sie mir Jamies etwas sarkastische Unterstützerin zu sein, dann jedoch beharrt sie vehement auf dem Standpunkt, als Dragqueen auf dem Abschlussball zu erscheinen, verstoße gegen die Regeln.

Inszeniert hat den Film Jonathan Butterell, der auch schon bei der Bühnenproduktion Regie führte. Er taucht Sheffield in sehr warme Farben. Da hätte für mich etwas “Billy Elliot”-Realismus mehr Reibung zwischen der Realität und den Traumsequenzen erzeugt. Vieles ist furios umgesetzt, aber das letzte Drittel schleppt sich ziemlich mühsam zum Happy End, womöglich eine Schwäche der Vorlage. Aber bis dahin hat mir der Film sehr gut gefallen, auch wenn ich das Gefühl hatte, der eine oder andere Song hätte etwas mehr Pep vertragen. Nichtsdestotrotz freue ich mich, dass man sich an die Verfilmung eines neueren Bühnenmusicals gewagt hat.

 
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