Nine
Musicalverfilmung / 2010

Rob Marshalls Verfilmung des Maury-Yeston-Musicals mit Kate Hudson, Nicole Kidman, Marion Cotillard, Penélope Cruz, Stacy Ferguson, Sophia Loren, Judi Dench und Daniel Day-Lewis.


“A film is a dream” führt Guido Contini nachdenklich in der in Schwarz-Weiß gehaltenen Anfangssequenz aus, die den künstlerisch ausgebrannten Regisseur bei einem Interview zu seinem nächsten Spielfilmprojekt “Italia” zeigt. Damit macht Regisseur Rob Marshall bereits zu Beginn deutlich, dass seine Filmadaption des Musicals “Nine” auch dem Geiste Fellinis entsprechen soll. Aus dessen filmischem Meisterwerk “8 ½”, das sich nicht mit solchen Banalitäten wie einer Erzählhandlung aufhält, sondern eine mit kühnen Assoziationsketten gespickte Ideensammlung über die Lebenskrise eines Filmemachers darstellt, die vielschichtig und vieldeutig nichts anderes als das Menschsein erklärt, kreierte Komponist und Songtexter Maury Yeston 1982 mit einer begnadet guten Partitur das Broadway-Musical “Nine”. Als ob es hiermit nicht genug an erstklassigem Material wäre, führt dieses Filmmusical darüber hinaus eine mit allerhöchsten Weihen ausgezeichnete Darstellerriege zusammen, die wohl jedem Regisseur entzückte Fieberträume bereiten dürfte. Angesichts solcher Rahmenbedingungen konnte eigentlich nur ein neues Meisterwerk herauskommen, zumal der mit der Umsetzung betraute Filmemacher selbst hochdekoriert ist und zudem vom Broadway-Fach kommt.Von diesem Gedanken sollte sich der Zuschauer zunächst einmal lösen, bevor er das Kinoticket löst, denn sonst ist die Gefahr zu groß, dass er nach den 118 Minuten, die der Film dauert, enttäuscht den Kinosaal verlassen wird. Liebhaber der Bühnenfassung, die 1999 am Theater des Westens ihre deutschsprachige Erstaufführung erlebte, werden sich vor allem daran stören, dass Marshall das Werk musikalisch entkernt hat und nur auf die Songs der Protagonisten zugreift. Damit beraubt er das Stück seiner Einzigartigkeit und musikalischen Komplexität. Die drei für die Filmfassung neu entstandenen Songs können die hierdurch entstandenen Lücken leider nicht schließen. Vor allem “Cinema Italiano”, eine radiotaugliche Up-Tempo-Hymne auf die italienische Filmkunst der 60er-Jahre, mutet im Vergleich zu dem gestrichenen Material, wozu auch die gesamte Casanova-Sequenz gehört, geradezu trivial an. Zudem – und da behält die Prüderie Hollywoods eben doch Oberhand gegenüber Freigeist Fellini – bürstet Marshall das Stück auf einen typisch amerikanischen moralisierenden Strich: Der nach Inspiration suchende und zugleich heftig ehebrechende Künstler erfährt hier seine Erlösung nicht durch die Muse, sondern erst nach einem zweijährigen schmerzhaften Läuterungsprozess. Unfreiwillig komisch wird es sogar, wenn die Brüste der Folies-Bergère-Tänzerinnen zwar bewundernd besungen werden, sich jedoch hinter Glitzer-Oberteilen verstecken müssen und die Kamera zudem verschämt an ihnen vorbeischaut. Bei soviel angepasster Doppelmoral versteht es sich von selbst, dass die visualisierte Fleischeslust in Gestalt der Saraghina nicht wie bei Fellini dreckig, sondern in formvollendeter Perfektion eines MTV-erprobten Rasseweibs daherkommt.Auch die erhofften ganz großen darstellerischen Leistungen bleiben aus. Dies gilt auch für Nicole Kidman, die der Claudia Jenssen, Guido Continis Hauptdarstellerin seiner erfolgreichsten Filme, zwar die nötige Aura einer Leinwandgöttin verleiht und sich bei ihrem Song “Unusual Way” wie auch schon in “Moulin Rouge!” gesanglich sehr beachtlich schlägt – der “eine” große Moment jedoch will sich bei ihr in “Nine”, wenn sie auch noch so gekonnt mit der Kamera zu flirten weiß, nicht einstellen. Echten Glanz versprühen nur zwei der vielen Stars: Zum einen Marion Cotillard (die Edith Piaf aus “La vie en rose”), die als Guidos Ehefrau Luisa den zunehmenden psychischen Zerfall, den sie unter den Demütigungen ihres Ehemannes erleidet, grandios darstellt. Mit ihrer bezaubernd-anrührenden Interpretation von “My husband makes movies” gehört ihr die eindringlichste Szene des Films. Ganz anders, aber genauso überzeugend präsentiert sich Penélope Cruz in blendender Spiel-, Tanz- und Gesangslaune: Als schlichtes Gemüt mit Faible für den Künstler spannt sie in der Rolle der Carla einen gekonnten Bogen zwischen enervierender Überdrehtheit und hoffnungsloser Verzweiflung und begeistert überdies auch in tänzerischer und gesanglicher Hinsicht, wenn sie mit ihrer aufreizenden Telefonsex-Nummer “A call from the Vatican” Guido schier um den angeschlagenen Verstand bringt. Wie nicht anders erwartet, präsentiert Stacy Ferguson, besser bekannt als Black-Eyed-Peas-Frontfrau Fergie, Saraghinas Song “Be Italian” mit enormer Stimmkraft und noch mehr Schwung in den Hüften. Schauspielerin Kate Hudson hingegen probiert sich das erste Mal am Gesang, was ihr als amerikanische Vogue-Journalistin Stephanie bei dem Song “Cinema Italiano” mit einer sattelfesten Laufsteg-Performance außerordentlich gut gelingt. Judi Dench kann mit ihrer abgeklärten Darstellung der Lilli, Guidos Kostümbildnerin und enge Vertraute – vor allem schauspielerisch punkten, während sie sich bei der Gesangsnummer “Folies Bergère” vor allem mit viel Sprechgesang über die Runden rettet. Für die Hauptrolle des Guido Contini bedarf es eines Darstellers, der sich angesichts einer solchen Frauenriege zu behaupten weiß: Der zweifache Oscar-Preisträger Daniel Day-Lewis wird dem ohne Zweifel gerecht – zudem steht er aufgrund seiner bisherigen Rollenprofile nicht im Verdacht der Hollywood-Oberflächlichkeit, so dass er glaubwürdig den existenzialistischen Regisseur in der Schaffenskrise geben kann. Der italienische Dialekt, mit dem er seine Rolle spielt und die markant-herbe Männlichkeit, die von ihm ausgeht, machen die Wirkung perfekt. Auch seine Songs meistert er gesanglich sauber und unerwartet kraftvoll, was man von Sophia Loren leider nicht behaupten kann. Dass die italienische Film-Legende Guidos Mamma gibt, darf man als Casting-Gag bezeichnen und ist dem Vermarktungskalkül zuzurechnen.Letztlich, und da wird man in der Bewertung auch schnell ungerecht, gerät dieser Filmadaption von “Nine” zum Nachteil, dass Marshall nach Fellinis Geniestreich und Yestons Meisterwerk kein neues Ausnahmewerk geschaffen hat. Was er hingegen vorlegt, ist grundsolides, oft sogar perfektes Unterhaltungshandwerk. Zudem ist ihm zuzugestehen, dass er den nicht eben einfachen Stoff in den Griff bekommt und durch die Änderungen gegenüber der Vorlage eine eigenständige und in sich schlüssige Neuinterpretation des Musicals präsentiert. Das Drehbuch von Michael Tolkin und Anthony Minghella konzentriert den Handlungsablauf auf die Geschichte um die Regieblockade des Filmemachers, wodurch der Erzählfluss seine Spannung behält und es nun bis zur allerletzten Sekunde des Films dauert, bis man den Regisseur wieder bei der Ausübung seiner Tätigkeit sieht und “Action!” rufen hört. Sehr elegant und visuell äußerst reizvoll gelingt das Aufeinandertreffen von Real- und Traumwelt, indem sogar einzelne Bewegungsabläufe in der Montage zusammengeführt werden (Schnitt: Claire Simpson und Wyatt Smith). Die auf Hochglanz getrimmten Kostüme (Colleen Atwood) sowie die immens aufwendig gestalteten Tanzszenen vermitteln, wohin die 80 Millionen Dollar Produktionskosten geflossen sind. Die Choreografien (Rob Marshall und John Deluca) sind mitreißend und die Sets (Produktionsdesign: John Myhre) allesamt prächtig und wunderschön ausgeleuchtet. Vor allem in der Kulisse der legendären Cinecittà Studios, die für diese Produktion in den englischen Shepperton Studios nachgebaut wurden, bieten sich der Kamera (Dion Beebe) genügend Gelegenheiten, Bilder voller Kinomagie einzufangen.”Nine” ist also vor allem sehr stylish und nicht besser oder schlechter als Marshalls mit sechs Oscars ausgezeichneter Regie-Erstling “Chicago”, der allerdings ebenfalls kein innovatives Meisterwerk war. Wer sich mehr davon versprochen hat, der wird, wie bereits eingangs geschildert, enttäuscht sein. Mit einer Ausnahme, denn zum Ende hin hat zumindest Marshall doch noch einen jener großen Momente: Fellini bemühte in “8 ½” gleich zu Beginn Wagners Walkürenritt als musikalische Entsprechung für die weibliche Übermacht, an der sich sein Protagonist abzuarbeiten hatte. Marshall greift die Assoziation des epischen “Ring”-Themas auf und inszeniert Guido Contini anfangs als Herrscher und Gottheit “seines” Filmstudios, um ihn schließlich dort auch seine persönliche und selbstverschuldete Götterdämmerung erfahren zu lassen. Der Herrscher über die Bilder muss dann ohnmächtig konstatieren, dass er den Film nicht drehen kann und reißt in seiner Verzweiflung die Leinwand herab, auf die die Probeaufnahmen des Drehtages projiziert werden. In diesem Moment des apokalyptischen Scheiterns, wenn ihn seine Bilder auf der zerstörten Leinwand nur noch in gebrochener und kranker Form umgeben und wie Schreckgespenster um ihn herum tanzen, entwickelt man eine Vorstellung davon, wie gut diese Filmadaption von “Nine” hätte werden können…

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