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Vor nunmehr 60 Jahren feierte “Fiddler On The Roof” am Broadway seine umjubelte Uraufführung und brach damals sämtliche Aufführungsrekorde – es war die absolute Musical-Sensation seiner Zeit. Dass der Fiedler auf dem Dach auch heute noch Begeisterungsstürme auszulösen vermag, zeigt Gil Mehmerts spektakuläre Inszenierung am Saarländischen Staatstheater. Diese Version von “Anatevka” ist ein Triumph für alle Beteiligten!
Beim Betreten des Zuschauerraumes schaut das Publikum auf die undurchdringlich wirkende Palisade eines Birkenwaldes, hinter der sich nach Beginn des Stücks die Lichter des Dorfes Anatevka und die Silhouetten seiner Bewohner abzuzeichnen beginnen. Es wird direkt deutlich: Die jüdische Gemeinde lebt hier abgelegen, für sich und etwas versteckt im Nirgendwo am Rande des Siedlungsrayons des russischen Kaiserreiches. Der melancholische Klang der Geige eröffnet die Handlung, als der namensgebende Fiedler auf dem Dach – aus der dunklen Silhouettenlandschaft durch einen Lichtkegel hervorgehoben – zum Auftritt der Hauptfigur Tevje aufspielt und der Milchmann die Zeit und Wertewelt der jiddischen Gesellschaft aus seiner Sicht zu erklären beginnt. Ein eindrucksvolles Bild direkt zum Anfang dieser Inszenierung, von denen Gil Mehmert im Verlauf des Stückes schier zahllose generiert. Unter seiner Regie gelingt es, die Handlung dynamisch wie kurzweilig voranzutreiben und dabei mithilfe von Stephanie Schulzes akzentuiert ausgearbeiteter Dramaturgie trotzdem szenische Bilder en masse zu setzen, die in Erinnerung bleiben.
Bei diesem Gesamtkunstwerk greifen alle Komponenten ineinander: Jens Kilians optisch ansprechendes wie funktionales Bühnenbild besteht aus einer um 360 Grad drehbaren, rustikal wirkenden Häuserfront, die den Blick auf – je nach Winkel – drei bis fünf Gebäude eröffnet. Dabei verfügen mehrere Häuser über zwei Stockwerke, eine geschlossene Giebelfront und ein offenes Inneres, was zahlreiche Spielebenen für die Darsteller entstehen lässt. Durch die dynamische Dreh- und Wendbarkeit des Häuserensembles entstehen unterschiedliche Straßen- und Hofszenen sowie der Kontrast zwischen öffentlichem Dorfleben und privater Familienidylle. Ein großes Kompliment gilt zudem Claudio Pohles stimmigen und authentischen Kostümen, die die Individualität der einzelnen Figuren und ihre Zugehörigkeit zu ihrer religiösen oder gesellschaftlichen Gruppe optisch gleichermaßen illustrieren. Michael Heidingers Lichtdesign könnte nicht passender angelegt sein: Ein maßgeblicher Teil von Mehmerts inszenatorisch ausgeklügelten Bildern kommen erst durch Heidingers fein nuanciertes Lichtsetting zur Geltung, das die beim Publikum angestrebten Emotionen gekonnt transportiert und reflektiert.
Ein besonders eindrucksvoller Moment, in dem die genannten Komponenten symbiotisch ineinander greifen, ist beispielsweise Tevjes Albtraumszene, in der makaber-düster und doch mit viel Witz die verstorbenen Seelen der Oma Zeitel und der Fruma-Sara Schrecken verbreiten: In schaurigem Licht sitzen Tevje und Golde in einem von Dunkelheit umgebenden, viel zu groß wirkenden Bett und werden von Gestalten in grotesken Skelettkostümen umschwärmt, bis schließlich die verschmähte Metzgersfrau als riesenhafte Geistererscheinung über der Szene erscheint und mit monströsen Händen nach Tevje zu greifen beginnt. Beeindruckend in jeder Hinsicht! Auch die ernsteren Szenen warten mit bleibenden Eindrücken auf: Das Pogrom am fröhlich-ausgelassenen Hochzeitsabend wird in Zeitlupe und mit flackerndem Licht so bedrückend eingerahmt, dass es keiner heftigen visuellen Gewalt bedarf, um die traumatische Situation am Ende des ersten Aktes so zu präsentieren, dass das Publikum betroffen und begeistert zugleich in die Pause entlassen wird.
Auch im zweiten Teil gibt es mehrere erwähnenswerte Momente, die aus Mehmerts Bildfeuerwerk besonders hervorzuheben sind: Zum einen die Vertreibung der Gemeinde aus ihrem Dorf Anatevka, das durch das Drehen des Bühnenbildes immer neue beklemmende Blicke auf die Einzelschicksale der Bewohner eröffnet, bevor sie sich als Gemeinschaft, dem biblischen Exodus nicht unähnlich, auf die Reise ins Ungewisse begeben. Ein erschreckend zeitloses Bild. Zum anderen ist auch die Schlussszene, in der es auf der Bühne zu schneien beginnt und Tevjes Familie mit ihrem wenigen Hab und Gut, angeführt vom Milchwagen ziehenden Vater, ihre beschwerliche Reise nach Amerika antritt. Aus dieser bedrückenden Szene tritt Tevje ein letztes Mal heraus und schaut zum im Schnee spielenden Fiedler auf dem Dach hinauf – ein trauriger Rückblick zum Anfang des Stückes, der die Melancholie und Schwere des oftmals so heiteren Stoffes überdeutlich werden lässt. Insgesamt ist die liebevolle Inszenierung der Szenen, in denen es um die bildreiche jüdische Ikonographie, Tradition und Gebräuche geht zu würdigen. Es ist diesen Szenen anzumerken, dass die Regie sich mit den ansässigen Synagogengemeinden für eine authentische Darstellung beratend ausgetauscht hat.
Fulminant sind die Tanzchoreographien von Bart de Clerq gelungen. Selten sorgen Tänze in Musicals heute noch beim recht verwöhnten Zuschauerauge für Begeisterung, doch de Clerq hat hier mit Dance Captain Andrew Chadwick an seiner Seite schier Atemberaubendes vollbracht: In akrobatischen Tänzen wird das vergangene Jahrhundert wieder erweckt. Voll von traditionellen Klezmer-Schrittfolgen und aufregenden Trepak- und Kasatschok-Elementen wird das Osteuropa von damals als spektakuläre Broadway-Extravaganz vom energetischen Tanzensemble wieder zum Leben erweckt. Der ikonische “Flaschentanz” und die ausgelassenen “Hochzeitstänze” sind genauso beeindruckend dargeboten wie die mit getragenen Abfolgen getanzte Ouvertüre zu “Tradition” und das heitere Herumwirbeln zu unterschiedlichen Stilen bei der Zusammenkunft der Russen und Juden in “Zum Wohl”. Selten sieht man so viel Dynamik und tänzerische Expertise sowohl von Seiten der Choreographie als auch von den Akteuren. Zurecht erhalten die Tanzszenen in dieser Inszenierung langanhaltenden Showstopper-Applaus.
Das bestens besetzte Saarländische Staatsorchester unter Justus Thorau vertont die anspruchsvolle Partitur mit Feingefühl in den stillen und mit Bombast in den heiteren Szenen. Dabei erklingt es zu jeder Zeit wohltuend voll und differenziert, sodass aus Jerry Bocks Repertoire vor allem die volkstümlichen Klänge, in denen die Streicher brillieren, facettenreich herauszuhören sind. Herauszuheben ist hier auch die gefühlvolle solistische Interpretation als Fiedler von Danny Gu. Die Tontechnik in Saarländischen Staatstheater ist einem Atmos-Kino ähnlich, sodass das Publikum vom Orchesterklang umhüllt scheint. Der Gesang wird glockenklar austariert, sodass jedes Wort auch in den Ensemble-Nummern gut herauszuhören ist – einzig die gesprochenen Dialoge hätten bei einzelnen Nebendarstellern einen beherzten Griff an die Tonverstärkung nötig gemacht, um das nahezu perfekte Ergebnis abzurunden. Die ansonsten exzellente Akustik und das fantastische Orchester wiegen diesen marginalen Abzug wiederum auf.
Das schier riesige Ensemble beeindruckt vor allem bei der Opening-Sequenz des Musicals zu “Tradition”, bei dem die Bühne neben den Tänzern und Schauspielern vor Akteuren der Statisterie und des singstarken Chorensembles überzulaufen scheint. So pompös besetzte Ensemblenummern sieht man in Theatern leider nur noch selten, was dem Saarländischen “Anatevka” aber gut zu Gesicht steht, es aus der Masse abhebt und durchaus den Vergleich mit den klassischen Broadway-Inszenierungen nicht zu scheuen braucht. Dazu tragen selbstverständlich auch die Hauptdarsteller maßgeblich bei. Jede der zahlreichen Rollen – vom Bettler, Soldaten und der Großmutter bis zum Buchhändler, Gastwirt und Rabbi – ist bis ins Kleinste passend besetzt und kreiert Wiedererkennungswert, was bei der schieren Fülle an Figuren nicht selbstverständlich ist.
Annika Steinkamp und Nina Links gelingen in ihren geisterhaften Rollen der Fruma-Sara und Oma Zeitel unterhaltsame und stimmstarke Momente, an die sich gerne zurückerinnert wird. Algirdas Drevinskas gibt eines liebenswert kauzigen Rabbi mit beeindruckender Gesangsstimme in den volkstümlichen Gebetsliedern. Eva Kammigan und Stefan Röttig geben ihren Charakterrollen der Heiratsvermittlerin Jente und des wohlhabenden Metzgers Lazar Wolf großartig überzeugendes Schauspiel mit und erzeugen so mehrdimensionale Charaktere mit emotionalen Höhen und Tiefen. Max Dollinger spielt einen liebenswerten Schneider Mottel, der seinem Gesangssolo “Wunder, ein Wunder” eine angenehm moderne Note verleiht. Nico Hartwig und Juri Menke liefern in ihren Interpretationen der unkonventionellen jungen Männer Perchik und Fedja die idealen Gegenparts zu ihren “Love-Interests”. Die drei ältesten von Tevjes Töchtern brillieren vor allem in den emotionalen Teilen ihrer Geschichte mit überzeugendem Schauspiel. Nina Links als Zeitel, Bettina Maria Bauer als Hodel und Annika Steinkamp als Chava (die ebenso wie Links eine Doppelrolle als kauzige Geisteroma bekleidet) sind zusammen ein eingespieltes Trio, das bei “Jente oh Jente” sich besonders harmonisch präsentiert. Auch im Zusammenspiel mit ihren jeweiligen Verlobten überzeugen Links, Bauer und Steinkamp auf ganzer Linie, wobei ihre gemeinsamen Szenen mit den Eltern Golde und vor allem Tevje besonders berühren.
Christiane Motter gibt als Golde schauspielerisch das differenzierte Charakterbild einer willensstarken und traditionsbewussten Ehefrau und liebevoll-strengen Mutter. Besonders im Duett “Ist es Liebe” weiß sie mit ihrer hin- und hergerissenen Golde zu gefallen. Der absolute Star des Abends ist Enrico De Pieri als Milchmann Tevje, dem die anspruchsvolle Figur wie auf den Leib geschneidert scheint. De Pieri geht förmlich in der Darstellung auf und wirkt nahezu mit seiner Rolle verschmolzen. Seine große stimmliche Bandbreite kommt als Tevje in den zahlreichen Gesangsparts von “Wenn ich einmal reich wär” und das “Sabbat-Gebet” über “Tevjes Monolog” bis hin zu “Jahre kommen, Jahre gehen” bestens zur Geltung, wobei es De Pieri gelingt, stimmlich wie gesanglich den Spagat zwischen den verschiedenen Stimmungen zu schlagen – mal fröhlich-seicht, mal getragen-traditionsbewusst und mal niedergeschlagen-melancholisch. Seine inneren Gespräche mit Gott und die Szenen, in denen um Tevje herum die Zeit stehen bleibt, damit er das Publikum an seiner Gedankenwelt teilhaben lassen kann, sprühen vor Witz, Charme und Emotionalität.
Diese Rolle ist ein absoluter Triumph für Enrico De Pieri – und das Stück in seiner bildreichen Inszenierung von Gil Mehmert und seiner durchweg perfekten Umsetzung ist ebenso ein Triumph für das Saarländische Staatstheater!
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KREATIVTEAM |
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Musikalische Leitung | Justus Thorau |
Inszenierung | Gil Mehmert |
Bühne | Jens Kilian |
Kostüme | Claudio Pohle |
Choreografie | Bart De Clercq |
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CAST (AKTUELL) |
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Tevje | Enrico De Pieri |
Golde | Christiane Motter |
Zeitel / Oma Zeitel | Nina Links |
Hodel | Bettina Maria Bauer |
Chava / Fruma-Sara | Annika Steinkamp |
Shprintze | Finja Hagen Clara Schöne Alessia Weyand |
Bielke | Eliana Bondarenko Theresa Prinz Zoé Sabokat |
Jente | Eva Kammigan |
Mottel Kamzoil | Max Dollinger Jon Jurgens |
Schandel | Barbara Brückner Alexandra Didié |
Perchik | Nico Hartwig |
Lazar Wolf | Stefan Röttig |
Motschach | Martin Planz |
Rabbi | Algirdas Drevinskas |
Mendel | Chadi Yakoub |
Awram | Johannes Summer Samuel Türksoy |
Nachum | Alto Betz Harald Häusle |
Wachmeister | Pitt Simon |
Fedja | Juri Menke |
Sascha | Andrew Chadwick |
Der Fiedler auf dem Dach | Lutz Bartberger Timothy Braun Wolfgang Mertes |
Tänzer 1 (Sohn, Gelehrter, Soldat) | Rohan Hazelton |
Tänzer 2 (Russe, Personal, Soldat) | Thomas Weal |
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GALERIE |
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