Außerhalb der USA steht “Oklahoma!” selten auf den Spielplänen. Singende Cowboys und die fröhliche Patriotismus-Folklore vieler Inszenierungen wirken jenseits der Vereinigten Staaten seltsam. Daniel Fish hat in seiner sowohl mit dem Tony als auch dem Olivier Award als bestes Revival ausgezeichneten Inszenierung unter Beibehaltung des Textes und aller Songs (in neuen Arrangements) den Rodgers-and-Hammerstein-Klassiker von Patina befreit. Darunter versteckt sich ein komplexes, raues und zum konsequenten Schluss sogar schockierendes Stück Musiktheater. Eine unerwartet unbequeme, aber großartige Show im Londoner West End.
Im Jahr 1906 steht Oklahoma kurz vor dem Beitritt zu den Vereinigten Staaten. Curley und Laurey sind ineinander verliebt, aber keiner der beiden gesteht es dem jeweils anderen. Der Cowboy Curley ist sich allerdings seiner Sache so sicher, dass er Laurey erst im letzten Moment zum Wohltätigkeitsball einladen will. Trotzig nimmt Laurey daraufhin die Einladung des eigenartigen Knechts Jud an. Es ergibt sich ein Hin und Her, das letztendlich mit der Hochzeit von Curley und Laurey endet.
Große Teile des historisch verschnörkelten Theatersaals des Wyndham Theatre und die komplette Bühne sind mit hellen Holzplatten verkleidet. Daran hängen – jederzeit griffbereit – Dutzende Gewehre. Das leicht gelbe Licht lässt das feucht-heiße US-Südstaaten-Klima nahezu spürbar werden. Träge sitzt das komplette Ensemble im Halbkreis um einen langen Tisch auf der Bühne. Doch die Trägheit hat eine gewisse Anspannung. Irgendetwas liegt in der Luft. Die Gewehre an den Wänden tragen auch zu einem Gefühl der Bedrohung bei. Die Stühle und der Tisch sind die Hauptrequisiten des Abends – in dieser Inszenierung wird viel gesessen. Die Trägheit liegt auch bleischwer über einigen Szenen – gerade am Anfang. Da fällt der Einstieg schwer – auch weil die ersten beiden Songs “Oh, What a Beautiful Mornin'” und “The Surrey with the Fringe on Top” deutlich langsamer angegangen werden als gewohnt. Bei “Kansas City” und seiner etwas verholperten Choreografie taut die Stimmung auf, bis das Eis bei “I Cain’t Say No” endlich bricht. Das liegt zum einen an dem flotteren Song, vor allem aber an der großartigen Paige Peddie als Ado Annie, die jede Nuance aus dem Song holt und gnadenlos die Herren im Parkett bespielt.
Die Nebenhandlung um Ado Annie bleibt weiterhin Komödie: Ado Annies Vater hat entschieden, sie dem Cowboy Will (zu Herzen gehend dusslig: James Patrick Davis) erst zur Frau geben, wenn er 50 Dollar besitzt. Ado Annie, die “nicht nein sagen kann”, poussiert aber nebenbei noch mit dem Hausierer Ali Hakim (in der besuchten Vorstellung Finlay Paul als feiger Womanizer). Hier sitzt jede Pointe und noch der letzte Lacher wird aus den Szenen herausgekitzelt.
Die Komik tut dem Abend auch sehr gut, denn sonst ist hier wenig lustig. Die Cowboys und Farmer stehen auf der sozialen Leiter nicht gerade weit oben. Terese Wadden hat Kostüme entworfen, die aussehen, als kämen sie direkt aus dem Sortiment eines Billig-Bekleidungsgeschäfts für Pseudo-Wildwest-Romantik. Das ist nicht wirklich schön, passt aber zur Stimmung auf der Bühne. Curly ist kein schmucker Bilderbuch-Cowboy. Arthur Darvill, der sich selbst auf der Gitarre begleitet und für diese Rolle mit dem Olivier Award ausgezeichnet wurde, hat eher verschwitzten Schmuddel-Charme. Liebenswert ist an diesem Macho auf den ersten Blick wenig.
Anoushka Lucas gibt ihrer Laurey eine starke Stimme und viel Selbstbewusstsein. Doch auch eine starke Laurey kommt nicht gegen die männliche Dominanz in ihrer Gemeinde an, da darf sie noch so beherzt zur Bierdose greifen. Wenn beim Wohltätigkeitsball Fresskörbe, zusammengestellt von den unverheirateten jungen Frauen, versteigert werden, hat das schon im Original einen Beigeschmack. Bei Regisseur Daniel Fish wird ganz klar nicht auf die Körbe, sondern die Frauen geboten. Richtig unangenehm fühlt man sich aber in einer Szene, die in völliger Dunkelheit gespielt und dadurch noch dichter wird: Jud gesteht Laurey zögernd seine Liebe, küsst sie gegen ihren Willen und man hört, wie er seine Hose öffnet. In der Szene danach kommen Curly und Laurey endlich zusammen, aber auch das lässt das Publikum nicht wohlig aufseufzen. Das Licht-Design von Scott Zielinski lässt Laurey zwischen Curlys übergroßen Schatten-Beinen winzig und eingequetscht erscheinen.
Patrick Vaill spielt die Rolle des Jud seit den ersten Gehversuchen dieser Inszenierung mit College-Studenten. Seine darstellerische Leistung ist atemberaubend gut. Er ist kein tumber Psychopath, wie er sonst oft gezeichnet wird, sondern ein depressiver Nerd. Sein Gesicht lässt ihn kindlich und verletzlich wirken, aber in seinem Blick ist etwas Manisches, was signalisiert, man solle sich besser von ihm fernhalten, denn irgendetwas stimmt hier nicht. Er ist der Außenseiter der Gemeinde. Keiner nimmt ihn für voll und keiner will etwas mit ihm zu tun haben. Curly ermuntert ihn im Song “Pore Jud is Daid” sogar zum Selbstmord, damit die Leute bei seiner Beerdigung endlich mal etwas Gutes über ihn sagen. Hier wird Juds Gesicht übergroß auf die Rückwand der Bühne projiziert und man sieht jedes kleinste Muskelzucken in seinem Gesicht, jede Reaktion auf die Pseudo-Laudatio, deren herabwürdigende Ironie er nicht versteht. In der Ursprungsfassung kommt Jud zu Laureys und Curlys Hochzeit, küsst Laurey, worauf die beiden Männer anfangen zu kämpfen und Jud in sein eigenes Messer fällt. Ein schneller provisorischer Prozess an Ort und Stelle spricht Curly frei und zum Finale singen alle noch einmal “Oklahoma!”, die Jubelhymne zum USA-Beitritt. In Fishs Inszenierung kommt Jud zur Hochzeit, schenkt dem Brautpaar eine Pistole, küsst Laurey und bittet Curly wortlos, nur mit einem Blick, ihn zu erschießen. Curly zögert und drückt ab. Die Gerichtsverhandlung dreht dann den Text so, dass alle Sätze nach verzweifelten Ausflüchten der Anwesenden klingen, warum Curly gar nicht anders handeln konnte. Und auch das Finale mit dem blutbespritzten Brautpaar klingt wenig jubelnd, sondern verstört, hilflos und traumatisiert.
Das ist das Faszinierende an dieser Inszenierung: Durch andere Betonung, andere Körpersprache und kleine Fokus-Verschiebungen erscheinen die Originaltexte in einem völlig anderen Licht und die Figuren bekommen ungeahnte Tiefe.
Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II wollten mit “Oklahoma!” neue Wege beschreiten und bezeichneten ihre erste Zusammenarbeit als “Musical Play”. Das Musical sollte weg von bloßer Unterhaltung zu ernsteren Stoffen und die Musik sollte die Handlung mehr vorantreiben. Die Choreografin der Uraufführung, Agnes de Mille hatte die Idee, Laureys innere Zerrissenheit in einem Ballett darzustellen. Das Ballett schließt sich dort am Ende des ersten Akts sinnvoll nahtlos an “Out Of My Dreams” an. In Fishs Inszenierung endet der erste Akt mit dem Song, der zweite beginnt mit der Tanzsequenz. Eine unglückliche Entscheidung, denn das Publikum wird unvorbereitet in John Heginbotham abstrakte Choreografie geworfen. Wie in de Milles Original wird die Darstellerin der Laurey gegen eine Tänzerin (ausdrucksstark: Marie-Astrid Mence) ausgetauscht. Eine lineare Handlung ist nicht zu erkennen, eher fließen surreale Träume ineinander, die Aktionen und Themen der bisherigen Handlung verarbeiten.
Das ist deutlich in der Musik zu hören, die verschiedene Melodien verarbeitet. Hier entfernt sich Daniel Klugers Arrangement am weitesten vom Original. Es gibt verzerrte Gitarren, alptraumhafte Dissonanzen – und vor allem ist es ungeheuer laut. Die ursprüngliche Orchestrierung des Musicals besteht, grob gesagt, aus einem klassischen Sinfonieorchester. Das folkloristischste Instrument im Orchestergraben ist dort eine Gitarre. Kluger dagegen treibt der Partitur jede Operettenseligkeit aus und besetzt die Band so, wie die Musik 1906 – zur Zeit der Handlung – in einem Dorf in Oklahoma geklungen haben könnte. Akkordeon, Banjo, Mandoline, Gitarren, Violine, Cello, Bass und Schlaginstrumente verteilen sich auf acht Musikerinnen und Musiker. Unter Huw Evans Leitung ergibt das mal transparente Klänge, mal fröhliche Country-Music, aber auch atmosphärische Klangexperimente.
“Oklahoma!” in London unterläuft alle Publikumserwartungen. Daniel Fishs Herangehensweise ist nicht jedermanns Sache – beim Verlassen des Theaters wird hörbar viel diskutiert – aber sie ist durchdacht, ausgefeilt, mutig und eindrucksvoll gespielt und gesungen. Wer sich darauf einlässt, erlebt einen Theaterabend, der noch lange nachhallt.
Zur Zeit steht die Funktion 'Leserbewertung' noch nicht (wieder) zur Verfügung. Wir arbeiten daran, dass das bald wieder möglich wird.
Mehrere Begriffe ohne Anführungszeichen = Alle Begriffe müssen in beliebiger Reihenfolge vorkommen (Mark Seibert Hamburg findet z.B. auch eine Produktion, in der Mark Müller und Christian Seibert in Hamburg gespielt haben). "Mark Seibert" Wien hingegen findet genau den Namen "Mark Seibert" und Wien. Die Suche ist möglich nach Stücktiteln, Theaternamen, Mitwirkenden, Städten, Bundesländern (DE), Ländern, Aufführungsjahren...