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0190 – ruf mich an! Hiermit wird allgemein eine telefonische Dienstleistung assoziiert, mit der Sexarbeiterinnen ihren Kunden eine gewisse Form der körperlichen Entspannung ermöglichen. In der neuen Musical-Komödie von Florian Stanek (Buch) und Sebastian Brand (Musik) geht es um genauso eine Telefonsex-Hotline, deren Betreiberinnen ein rüstiges Rentnerinnen-Trio ist. Die von Lars Franke inszenierte Uraufführung in Schwedt ist top besetzt und garantiert jede Menge Lachtränen, schafft aber auch Raum für ernstere Momente.
Nach dem Tod ihres Ehemannes Walter sitzt Anna auf einem Schuldenberg. Die Konten sind leer und ihr spielsüchtiger Gatte hat vor seinem Ableben ohne Annas Wissen bei einem windigen Kreditgeber eine Hypothek auf die gemeinsame Eigentumswohnung eintragen lassen. Nun will “Gloria Invest” Geld sehen und die Witwe muss zur Verhinderung der eigenen Obdachlosigkeit innerhalb von vier Monaten stolze 180.000 Euro auftreiben. Viel Geld für eine pensionierte Ärztin ohne finanzielle Rücklagen!
In dieser traurigen Ausgangslage trifft Anna auf ihre ehemaligen Schulfreundinnen Gerda und Waltraud. Autor Florian Stanek charakterisiert die drei Typen, die unterschiedlicher nicht sein können: Anna war neben ihrer Arbeit in der eigenen Praxis 55 Jahre immer treu ergeben für ihren Mann Walter da, der seine sexuelle Lust allerdings mit Gerda ausgelebt hat. Diese ist eine elegante Femme Fatale, die ihr wahres Alter gerne verschleiert und als gelernte Schauspielerin das ganze Leben auf ihre Entdeckung wartet. Als Dritte im Bunde fristet die kinder- wie karrierelose Waltraud ihr Dasein als prüde, alte Jungfer im Schoß der katholischen Kirche.
Diese sehr unterschiedlichen Lebensmodelle führen zu Konflikten als durch einen dummen Zufall ein unbekannter Anrufer Anna um sexuelle Dienstleistungen bittet. Die lebenslustige Gerda erkennt sofort die Chance, hiermit Annas finanziellen Probleme zu lösen. Mit dem Song “Sei ‘mal pervers, sei ‘mal obszön” schlägt sie ihren Freundinnen vor, das Trachtenkostüm gegen Lack und Leder zu tauschen und als Trio Männer am Telefon sexuell zu stimulieren. Um sich aus der finanziellen Klemme zu befreien, stimmt Anna widerwillig zu, Waltraud will als Unterstützung nur zusehen.
Allerdings hat das Unternehmen “Reife Damen” Startschwierigkeiten. Erst nachdem Waltraud das Telefon mit Weihwasser aus Lourdes bespritzt und das Thema Sex im Alter auch für sich enttabuisiert hat, kommen die Seniorinnen in Annas Wohnzimmer mit den Kunden am Hörer in Fahrt. Hilfestellung leistet dabei auch der selbstgebackene Inhalt aus Gerdas Keksschatulle, den sie mit “etwas Grünzeug” verfeinert hat.
“Reife Damen” ist weit mehr als ein schlüpfriges Stöhn-Musical. Florian Staneks Buch ist natürlich auch derb-zotig, behält aber unterhalb der Gürtellinie ein gewisses Niveau. Der Autor entwickelt das Stück weiter zu einer bitter-bösen Komödie, die auch vor Themen wie Altern, Armut, Einsamkeit, Lebenslügen, Senioren-Sex und Medienkritik nicht Halt macht. Denn als das Sex-Unternehmen durch ein Instagram-Posting von “Mysterious Venus” alias Gerda zum viralen Hit wird, verpflichtet ein Fernsehsender das Trio für das Reality-Format “Reife Damen – bei Klingeln stöhnen”. Kurz vor der ersten Sendung erkennen Anna und Waltraud jedoch den wahren Grund für Gerdas Engagement: Ihre rücksichtslose Gier nach Öffentlichkeit und Ruhm (“Jetzt ist Gerda dran”). Es kommt zum unvermeidlichen Bruch, der jedoch behutsam zu einem versöhnlichen Finale geführt wird: Anna kann ihre Wohnung retten, Gerda steht zu ihrem Alter und Waltraud entdeckt die Scheinheiligkeit der Kirche. Als “Reife Damen” findet das Trio zudem mit einem neuen Telefon-Service seine Berufung.
Auch musikalisch bewegt sich das Stück auf hohem Niveau. Sebastian Brand hat seine abwechslungsreiche Partitur mit Ohrwürmern für ein Jazz-Trio arrangiert, in der Ensemble-Nummern dominieren, aber auch jede der Damen Soli hat. Stilistisch reichen die Songs von Disharmonien à la Kurt Weill über eingängige Schlagerballaden und federnden Samba-Rhythmen bis hin zu klassischen Musical-Showstoppern. Der Knaller ist jedoch der Choral “Die Morgenlatte”, den die drei Musiker als Einlage inbrünstig a-cappella vortragen.
Ausstatterin Frauke Bischinger postiert die Basnd um Tom van Hasselt (musikalischer Leiter am Klavier), Tobias Fuchs (Jazzschlagzeug) und Geoffrey Dabrock (Bassposaune) zentral in einem Rahmen aus Glühbirnen auf einem Podest über der eigentlichen Spielfläche. Hier verwandeln zwei drehbare Wand-Elemente und wenige Versatzstücke den schlichten, schwarzen Raum in Annas plüschiges Wohnzimmer oder die Garderobe des Fernsehstudios. Bischingers Kostümbild charakterisiert die Damen im ersten Teil optisch perfekt als Witwe in Trauerkleidung, Luxus-Lady und strenge Kirchenmaus. Später kleidet sie die Protagonistinnen in moderne Haus-Anzüge und für die Fernsehaufzeichnung in schrille Kostüme als Büßerin, Krankenschwester und Marilyn-Kopie.
Regisseur Lars Franke nutzt die frivole, aberwitzige und bitter-böse Vorlage und kreiert daraus eine flotte Inszenierung, in der die Pointen nur so hin und her flitzen. Franke lässt jedoch auch viel Raum für Gefühl und Stille, zum Beispiel, wenn jede der Seniorinnen feststellen muss, dass der Sinn, den sie ihrem bisherigen Leben gegeben hat, eine Lüge ist. Zudem lässt er die drei Darstellerinnen sowohl ihre körperlichen Wehwehchen als auch die Sehnsucht nach sexuellen Aktivitäten augenzwinkernd ausspielen. Eliza Holubowskas Choreografien sind entsprechend altersgerecht gestaltet.
Auch wenn man bei Damen nicht über ihr Alter sprechen soll, tun wir es doch: Gabriele Schwabe ist die einzige der drei Darstellerinnen, bei der das wirkliche Alter dem Spielalter entspricht. Mit der Kreation der Uraufführungs-Anna setzt sie Maßstäbe und krönt damit ihre lange Theater-Karriere. Schwabes Anna ist zunächst sehr zerbrechlich und zögerlich. Wenn sie sich jedoch aus dem Schatten ihres verstorbenen Mannes befreit hat, mausert sie sich zur resoluten Rentnerin mit Kodderschnauze. Als Komödiantin, aber auch gesanglich harmoniert Schwabe perfekt mit ihren Kolleginnen. Dabei schafft sie mit ihrer klassisch geschulten Stimme, die zum Beispiel im Solo “Liebe übers Telefon” in den Höhen funkelt, ergreifende Momente.
Auch Ines Venus Heinrich und Katarzyna Kluczna leisten als mondäne Gerda und keusch-kuschende Waltraud Großes. Dank der Künste der Maskenbildnerinnen Christina Opitz und Maria Emeling werden aus ihnen zwei schrullige Alte mit Macken. Beide spielen ihre Senioren-Alter-Egos absolut rollendeckend und beherrschen perfekt das Setzen von Pointen. Heinrichs Gerda ist dabei eine nur auf den ersten Blick alterslose Möchtegern-Diva mit Sonnenbrille und goldenem Krückstock, die in ihrem Chanson “Dann bist du alt” ihren Jugendwahn ablegt und sich eingesteht, dass es schön ist, eine Schildkröte unter Flamingos zu sein. Den komödiantischen Höhepunkt der Aufführung legt bravourös Kluczna mit einer Kuchenback-Telefonsex-Szene hin, in der Waltraud nach zwölf Jahren Pause einen Orgasmus erlebt. Auch gesanglich lässt die Darstellerin mit ihrer schönen Musicalstimme keine Wünsche offen.
Kommunalfinanzierte Theater trauen sich nicht oft an in Deutschland entwickelte Musicals heran. Deshalb muss es den Uckermärkischen Bühnen hoch angerechnet werden, die Uraufführung von “Reife Damen” in einer so hohen Qualität auf die Bühne zu stelllen. Dem Stück ist dort nicht nur eine lange, erfolgreiche Aufführungsserie zu wünschen, sondern auch viele weitere mutige Häuser, die es zukünftig in eigenen Inszenierungen nachspielen.
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KREATIVTEAM |
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Inszenierung | Lars Franke |
Musikalische Leitung | Tom van Hasselt |
Ausstattung | Frauke Bischinger |
Choreografie | Eliza Holubowska |
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CAST (AKTUELL) |
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Anna | Gabriele Schwabe |
Gerda | Ines Venus Heinrich |
Waltraud | Katarzyna Kluczna |
Klavier | Tom van Hasselt |
Jazzschlagzeug | Tobias Fuchs |
Bassposaune | Geoffrey Dabrock |
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GALERIE |
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