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Zwei Jahre nach der ursprünglich geplanten Premiere kann die alte Dame nun endlich auch Tecklenburg besuchen. Keine einfache Kost, bei der dem Publikum das eine oder andere Mal auch das Lachen im Halse stecken bleibt; wird doch die Frage aufgeworfen, wie weit eine Gesellschaft für ihren Wohlstand gehen darf. Damals war noch Pia Douwes, die die Titelrolle bereits in der schweizerischen Uraufführung und später in Wien kreierte, angekündigt; jetzt steht stattdessen Masha Karell auf der Freilichtbühne und darf die verhängnisvolle Forderung stellen: Geld gegen Leben!
Claire Zachanassian kommt nach vielen Jahren zurück in die Kleinstadt Güllen, in der sie aufgewachsen ist. Die Einwohner Güllens setzen viel Hoffnung in ihre Rückkehr, schließlich ist sie mittlerweile eine berühmte Milliardärin und Güllen eine sterbende Stadt. Claire verspricht zu helfen, fordert dafür allerdings eine Gegenleistung: den Tod ihrer Jugendliebe Alfred. Anfänglich solidarisieren sich die Güllener noch mit ihm, doch mit wachsender Konsumlust wachsen auch die Geldsorgen.
Die Musik von “Der Besuch der alten Dame” lässt sich am besten mit einem Wort beschreiben: bombastisch. Bereits bei der Ouvertüre schmettert das Orchester mit voller Wucht los. Die Show ist voll von großen Chor-Nummern, die wie geschaffen sind für eine Inszenierung in Tecklenburg mit seinem riesigen Ensemble, sowie von wunderschönen Duetten für Claire und Alfred. Moritz Schneider und Michael Reed haben mit einem ganz eigenen Musikstil eine Partitur geschaffen, die viel mit Leitmotiven spielt und die Charaktere und die Handlung der Show sehr gut illustriert. Der Stimmungswechsel beispielsweise vom luftig-leichten und ironischen “Sie ist seltsam” zum treibend beängstigenden “Ungeheuerlich” mit seinen Posaunen, die wie die Ankündigung des Weltuntergangs wirken, ist ganz großes Musiktheater. Dabei ist das Wiederhören mit dem Tecklenburger Orchester unter der Leitung von Tjaard Kirsch eine wirkliche Freude. Sauber abgemischt lassen sich auch einzelne Instrumente gut heraushören und das Verhältnis zwischen Orchesterbegleitung und Darstellern auf der Bühne ist stets komplett ausgewogen.
Die Texte hingegen sind von ziemlich wechselnder Güte. Oft sehr gelungen in den Soli und den Ensemble-Nummern, sind sie hingegen in den Duetten häufig platt und vorhersehbar. Textzeilen wie “Liebe endet nie, nichts ist stark wie sie” werden einem Literaturklassiker wohl eher nicht gerecht.
Für das Buch der Musicalfassung und damit auch für die Übertragung der berühmten Vorlage von Friedrich Dürrenmatt ist Christian Struppeck verantwortlich. Er hält sich zwar eng an die Dürrenmatts Drama, erlaubt sich allerdings auch die eine oder andere Abweichung. So setzt er zum Beispiel eine doppelte Erzählstruktur ein, durch die auch viele Regieumsetzungen vorgegeben sind. Ulrich Wiggers nimmt diese in seiner Inszenierung auf und entwickelt sie sehr gekonnt weiter. In beinahe allen Szenen zwischen Claire und Alfred stehen neben den beiden bereits in die Jahre gekommenen Hauptcharakteren auch deren jüngere Alter Egos wie Schatten aus der Vergangenheit auf der Bühne. Mal turtelt das junge Paar nur im Hintergrund, mal – und hier geht Wiggers über die Original-Inszenierungen in Thun und Wien hinaus – werden sie direkt in die Handlung einbezogen: Wenn Claire sich zum Beispiel an vergangene Momente mit Alfred erinnert, spricht sie zum jungen Alfred und lehnt sich vertraut an dessen Schulter. Alfred wiederum antwortet dann der jungen Claire. Die Geschichte wird dicht erzählt. Mit wenigen Ausnahmen, wie zum Beispiel der überflüssig wirkenden Shownummer “Trio Infernal”, die in der besuchten Vorstellung krankheitsbedingt zu einem “Duo Infernal” wurde, entstehen keine Längen. Witzige und dramatische Momente wechseln sich immer wieder ab. Eine kleine Hommage Wiggers an das Originalwerk Dürrenmatts findet sich in der Szene, in der sich die Bürger Güllens im Laden Alfred Ills auf Kredit mit allerlei Luxusgütern eindecken. Einer der Güllener trägt hier die im Drama immer wieder als Symbol für den Konsumrausch der Bürger eingesetzten gelben Schuhe, die in der Musicalfassung eigentlich keine Rolle spielen.
Insgesamt verzichtet Ulrich Wiggers in seiner Regie auf große Effekte und konzentriert sich viel mehr auf die handelnden Personen. Dabei gelingen ihm ganz berührende Momente, insbesondere bei “Sturm der Liebe”, der letzten Szene im ersten Akt: Alfred und Claire treffen auf der Bank im Wald aufeinander, auf der sie sich schon in ihren jungen Jahren immer verabredet haben. Er bittet Claire um Verzeihung für das, was er ihr angetan hat. Dabei kniet er sich vor sie hin und streift ihren schwarzen Mantel ab. Darunter zum Vorschein kommt ein komplett weißes Kleid, wie es die junge Claire als Symbol für ihre unschuldige Liebe auch immer trägt. Für einen Moment scheint es, als hätte Alfred die harte Schale Claires geknackt und sie wird weich. Als Alfred sie dann fragt, ob sie ihm verzeihe, erlangt Claire wieder die Fassung. Mit Eiseskälte schmettert sie ihm ein “Niemals” entgegen. Ein wunderbarer Moment und ein besonders beeindruckendes Aktfinale! So sind es zwar die großen Töne, die das Musical “Der Besuch der alten Dame” kennzeichnen, aber es sind die kleinen Gesten und Ideen, die die Tecklenburger Fassung so besonders machen.
Eine Inszenierung, die dermaßen auf die Personenregie setzt, steht und fällt natürlich mit dem Cast. Auch dabei hat das Tecklenburger Team ein gewohnt gutes Händchen. Mit Martin Pasching als Bürgermeister, Alexander Di Capri als Lehrer, Benjamin Eberling als Pfarrer und Andreas Goebel als Polizist sind die Nebenrollen der Show sehr passend besetzt. Besonders Martin Pasching gibt einen herrlich biederen Bürgermeister, der sich vom anfänglichen Bewunderer Alfreds zu einem beinahe ekelerregend zweigesichtigem Biedermann entwickelt. Die junge Claire und der junge Alfred werden von Katia Bischoff und Fabio Diso gespielt. Beide harmonieren ganz hervorragend miteinander und vor allem auch mit ihren beiden älteren Alter Egos.
Navina Heyne zeichnet Alfreds Ehefrau Mathilde als bescheidene Ladenbesitzerin. Den Blick meist beinahe verschüchtert auf den Boden gerichtet, wächst sie über sich hinaus, wenn es darum geht, ihrem Ehemann beizustehen. Wenn sie sich am Ende dann selbst gegen Alfred stellt, ist ihr Widerwille deutlich spürbar. Mit ihrer klaren und warmherzigen Stimme singt sie sich schnell in die Herzen des Publikums. Es braucht ein großes Einfühlungsvermögen, um eine so kleine Rolle mit so viel Persönlichkeit zu füllen.
Die Rolle des Alfred Ill übernimmt Thomas Borchert. Sehr schön ist, dass sein Alfred ebenso bescheiden angelegt ist, wie der Charakter seiner Ehefrau Mathilde. Zu Beginn ist er sichtlich überrascht, wenn der Bürgermeister ihm sein Amt anträgt für den Fall, dass er Claire dazu bringt, die Stadt finanziell zu unterstützen. Nachdem Claire ihre Forderung für die Unterstützung gestellt hat, ist ihm die Angst um sein Leben im Gesicht abzulesen. Während Mathilde ihr “Ich schütze dich” singt, kauert Borchert weinend auf den Boden und es ist spürbar, wie es ihn im Laufe der Handlung immer weiter in den Abgrund zieht. Die Partitur meistert Borchert gewohnt mühelos. Sein “Ich hab die Angst besiegt” ist eines der musikalischen Highlights der Show und wird mit langem Szenenapplaus bedacht.
Allen Darstellern den Rang ablaufen kann nur eine: Masha Karell in der Titelrolle der alten Dame. Ihre Claire ist eine Mischung aus zutiefst verletzter Seele und Rachegöttin. Obwohl sie sich auf einen Gehstock stützt, als müsse sie damit die Last der ganzen Welt tragen, macht sie bereits bei ihrem ersten Auftritt klar, wer das Sagen hat. Sie brüllt die Wut und die Verzweiflung über ihr Schicksal mit einer massiven Stärke hinaus, nur um im nächsten Moment klein und zerbrechlich wie aus Glas zu wirken. Auch gesanglich kann sie rundum überzeugen. Sei es bei “Gerechtigkeit” und “Die Welt gehört mir”, bei denen sie ein Tempo vorlegt, dass einem schon beim Zuhören schlichtweg die Luft wegbleibt, oder wenn sie bei den Duetten mit Alfred – hin- und hergerissen zwischen ihren Gefühlen – innerhalb von Augenblicken die Stimmung wechselt. Genau dann hat sie auch ihre schauspielerisch größten Momente. Ihr zuzusehen und zuzuhören ist ein wahres Wechselbad der Gefühle und sie schafft es, die Zerrissenheit ihres Charakters völlig überzeugend über die Rampe zu bringen.
Mit der “Besuch der alten Dame” ist den Tecklenburger Festspielen eine glanzvolle Rückkehr nach der Zwangspause gelungen. In einem Interview mit der musicalzentrale zu seiner Inszenierung sagte Ulrich Wiggers, dass er die Handlung wie von Dürrenmatt vorgesehen in der Gegenwart spielen lasse und er der Meinung sei, dass die Geschichte auch heute noch von großer Aktualität ist. Die Entscheidung, welche die Bürger Güllens treffen müssen, ist eine Entscheidung, der wir uns mit Blick auf die weltpolitische Lage auch immer wieder stellen müssen. Die Schlussszene in Tecklenburg zeigt die Bürger Güllens wie sie ihre Geldscheine zusammenraffen und zählen. Zufrieden sehen sie dabei nicht aus und sie stehen alle für sich allein da. Diesem Bild ist wohl nichts mehr hinzuzufügen.
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KREATIVTEAM |
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Regie | Ulrich Wiggers |
Musikal. Leitung | Tjaard Kirsch |
Choreografie | Bart De Clercq |
Musik | Moritz Schneider Michael Reed |
Buch | Christian Struppeck |
Liedtexte | Wolfgang Hofer |
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CAST (AKTUELL) |
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Claire Zachanassian | Masha Karell |
Alfred Ill | Thomas Borchert |
Mathilde Ill | Navina Heyne |
Matthias Richter Bürgermeister | Martin Pasching |
Klaus Brandstetter Lehrer | Alexander di Capri |
Johannes Reitenberg Pfarrer | Benjamin Eberling |
Gerhard Lang Polizist | Andreas Goebel |
Loby | Jochen Schmidtke |
Toby | Michael B.Sattler |
Roby | Andrew Chadwick |
Die junge Claire | Katia Bischoff |
Der junge Alfred | Fabio Diso |
Lena | Lasarah Sattler |
Ensemble | Tamara Albers Jan Altenbockum Dominique Aref Jürgen Brehm Zoltan Fekete Lukas Haiser Jennifer Kohl Esther Larissa Lach Mathias Meffert Julian Schier Lara Schittko Birgit Widmann |
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