Getreu dem Motto “Make Love, Not War” versucht eine Hippie-Kommune Landei Claude vom Eintritt in die US-Armee abzuhalten. Katja Buhl inszeniert die TfN-Produktion des 1968 uraufgeführte Musicals von Galt McDermot, Gerome Ragni und James Rado.
Hubschrauberlärm, das Licht flackert, überdimensionale Schwarz-Weiß-Fotos auf dem Wellblech des Eisernen Vorhangs, Suchscheinwerfer durchkämmen den Zuschauersaal. Ein Soldat stürmt auf die Bühne und duckt sich. Sehr viel besser kann man den Einstieg des Musical-Klassikers “Hair” nicht gestalten. Langsam hebt sich der Eiserne Vorhang, eine Glocke schlägt im Takt, und gibt Schicht für Schicht den Blick auf ein heruntergekommenes Theater mit Anti-Kriegsparolen frei. Die Inszenierung von Katja Buhl am Theater für Niedersachsen (TfN) startet motiviert und verspricht viel. Dennoch reicht es in der besuchten Vorstellung nach 100 Minuten plus Pause nicht für Standing-Ovations. Was ist schiefgelaufen? Ist etwas schiefgelaufen?
Das TfN wagt sich mit “Hair” an eines der erfolgreichsten Musicals der Welt und setzt dazu mit Buhl / Unsicker / Lebjedzinski auf ein bewährtes Team. Das Theater selbst beschreibt das Musical dabei als ein szenisches Kaleidoskop. Allem übergeordnet scheint die Distanz oder Oberflächlichkeit der einzelnen Charaktere zu stehen. Während besonders Inszenierungen, die sich stärker am (später entstandenen) Film zum Musical orientieren, mit einer Geschichte punkten, stehen in Hildesheim die 31 Songs klar im Vordergrund.
In hohem Tempo spult das Ensemble so auf technisch solidem Niveau die ersten Songs des Musicals herunter, nach etwa zehn Minuten eine erste kurze Verschnaufpause und erster Applaus. Auch später hasten die Darsteller durch die einzelnen Nummern. Die wenigen Dialoge unterbrechen die deutlich zu schnell eingezählte Musik der siebenköpfigen Band um Andreas Unsicker nur kurz. Unter dieser Geschwindigkeit leidet auch die Wirkung der zum Teil starken (auf deutsch gesungenen) Songtexte. Die Choreographien von Annika Dickel sind aufwändig und technisch schön anzusehen, eine vielarmige Menschenstatue, ein scheinbar schwebender Mensch – an Einfällen mangelt es nicht und auch das Ensemble begeistert durch Präzision. Allerdings nimmt Dickel zu oft den Geist der Handlung nicht auf und ihre Arbeiten treten so mit viel (zu viel) Power in den Vordergrund. Das Licht ist meist hell und wenig akzentuiert, die Farbgebung zum Teil unverständlich, auf Gobo-Einsatz wird vollständig verzichtet. Highlights sind klar die überdimensionalen Projektionen zu Beginn und am Ende der Aufführung. Zusätzlich spielt das Ensemble gegen ein Bühnenbild von Steffen Lebjedzinski aus massiven Stahlträgern und Mauerwerk an.
Vielleicht liegt es auch an genau dieser Mischung, dass der Funke scheinbar nicht so recht überspringt. Die Hildesheimer Inszenierung mag vieles sein, aber sicherlich nicht hippig. Vielmehr wirkt sie sehr motiviert: Mehr Tanz, mehr Bühnenbild, mehr Musik, mehr Licht. Es bleibt keine Zeit, die einzelnen Charaktere kennenzulernen. Zu kurz und zu schnell treten sie in Erscheinung, um gleich darauf wieder im Ensemble zu versinken. Dass auch in den Dialogen Mikrophone zum Einsatz kommen, trägt dazu bei, eher die Atmosphäre eines Konzerts als einer Hippikomune zu erzeugen. Selbst in Reihe sieben ertönen die Stimmen schon in gleichmäßigem Stereo und lassen sich besonders in manchen Ensemblenummern keiner Person mehr zuordnen. Der weitestgehende Verzicht auf Verfolger-Scheinwerfer verstärkt diesen Effekt.
Im zweiten Akt wirkt das Gesamtbild etwas stimmiger. Die Musik ist weiterhin zu schnell, aber an vielen Stellen passt dieser Kniff jetzt zum nahenden Kriegseinsatz von Claude (stimmlich stark: Jonas Hein). Auch die zum Teil schnellen Choreographien wirken nun besser im Gesamtbild. Die Atmosphäre wird stetig kühler, bis schließlich Schnee auf das Grab eines toten Soldaten fällt und “Let the Sunshine in” erklingt. Im Finale präsentiert Katja Buhl damit einen guten und emotional starken Abschluss ihrer Arbeit.
Da das Publikum allerdings zu wenig Möglichkeit hatte, die Charaktere kennenzulernen, verschenkt die Inszenierung einen guten Teil ihrer Schlagkraft. Die Zuschauer beobachten das Treiben hinter dem Orchestergraben auf Distanz – fast wie in einem Fernseher. Eine Bindung zu einzelnen Charakteren kann nur schwer entstehen. Und so bleibt der Schlussapplaus in der besuchten Vorstellung höflich, die Reprise des Titelsongs als Zugabe zieht nur wenige aus ihren Sitzen. Den stärksten Part an diesem Abend bildet eindeutig das zwölfköpfige Ensemble der Musical Company. Technisch präzise, stimmsicher und engagiert versuchte es, den Stoff in den Zuschauerraum zu transportieren. Oft scheiterte es dabei jedoch an der zu hohen Geschwindigkeit der Inszenierung.
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