Cusch Jung liefert den Beweis dafür, dass eine eher klassische Inszenierung nicht einfallslos sein muss und bringt den Wildhorn-Klassiker ohne aufgezwungene Modernisierungsversuche, dafür aber optisch eindrucksvoll und als stimmiges Gesamtbild auf die Bühne. In den Titelrollen: ein vor allem darstellerisch überragender Marc Clear.
“Jekyll & Hyde” wird im deutschsprachigen Raum oft und gerne in modernisierter Form gezeigt – mal eher stilisiert mit Neonleuchteffekten im Bühnenbild, mal mit pseudo-wissenschaftlichen Deutungsversuchen von Jekylls Experiment, mal durch eine gänzliche Verlegung der Handlung ins hippe Computerzeitalter. Dass es durchaus auch anders geht und “historisch” nicht gleichzeitig auch “angestaubt” bedeutet, beweist Cusch Jung an der Musikalischen Komödie in Leipzig mit einer Inszenierung, die in vieler Hinsicht sehr ursprünglich und dennoch dabei alles andere als einfallslos ist.
Die Handlung belassen Cusch Jung und Dramaturg Christian Geltinger durchweg im viktorianischen Zeitalter mit all seiner Doppelmoral und seinen sozialen Gegensätzen, die von Kulisse und Kostümen anschaulich und eindrucksvoll wiedergespiegelt werden. In den Straßenszenen bleibt die Bühne optisch zweigeteilt: schicke, nasenrümpfende Oberschicht vor ansehnlichen Stadtvillen auf der einen Seite, das in Armut versinkende Gossenleben auf der anderen. Die Rote Ratte dagegen wird zum verrucht-einladenden Sündenpfuhl ganz in rotem Plüsch und mit leichtbekleideten Artistinnen, die sich gekonnt sinnlich-akrobatisch hoch über der Bühne räkeln. Die opulente Ausstattung lässt keine Zweifel: dies ist keine billige Spelunke, in die sich Jekyll und Utterson zufällig verirren, sondern eine begehrte Spielwiese für die feinen Herren der Upper Class.
Es findet sich das eine oder andere dramaturgische Element, das mehr oder weniger direkt aus der Broadwayfassung (z.B. die von Utterson und Sir Danvers erzählte Einleitung des Stückes) bzw der deutschen Urfassung (z.B. die Umsetzung der “Konfrontation”) übernommen wurde, doch im Gesamtbild ergibt sich eine völlig eigenständige und in sich geschlossene Inszenierung, die fast gänzlich ohne größere Kürzungen auskommt. “Welch Gefühl, lebendig zu sein” wurde etwas gekürzt und auf die “Welt ist völlig irr” muss man verzichten (und tut es auch gerne). “Mädchen der Nacht” dagegen, eigentlich ein schwülstiges und inhaltlich wenig aussagekräftiges Dirnen-Duett zwischen Lucy und Nellie, wird hier deutlich später in die Handlung eingefügt und erklingt als dramatisches Klagelied Nellies nach dem Tod von Lucy. Durch diesen dramaturgischen Geniestreich (den Cusch Jung übrigens bereits in der Freilicht-Produktion in Tecklenburg 2007 anwendete) erhält der Song eine völlig neue Tragweite und wird zum emotionalen Höhepunkt des zweiten Aktes.
Marc Clear liefert darstellerisch eine überragende Leitung ab und läuft auch stimmlich im zweiten Akt zu Höchstform auf. Jekyll und Hyde sind hier nicht nur optisch gut zu unterscheiden, sondern auch Clears Stimme variiert: Jekylls ist klarer und wohl-moduliert, Hyde dagegen klingt rauer, härter und animalischer. Mit differenziertem, unübertriebenem Spiel gelingt es Clear, sowohl Jekylls quälenden Wissensdrang, als auch Hydes unbändigen Hunger nach Gewalt und Zerstörung glaubhaft auszudrücken.
Corinna Ellwanger darf als Lisa in der Verlobungssequenz scharfzüngigen Humor beweisen, bleibt aber ansonsten rollengemäß etwas blass. Vor allem zu Beginn des Stückes hat Ellwanger beim Übergang von Brust- zu Kopfstimme ein paar kleinere Schwierigkeiten, singt aber im zweiten Akt “Da war einst ein Traum” makelloses und ergreifend. Lucy-Darstellerin Marysol Ximénez-Carillo überzeugt mit starker Stimme und viel Bühnenpräsenz, sowohl bei ihrem opulenten Einstieg mit “Schafft die Männer ran” als auch in den leisen, schwermütigen und hoffnungsvollen Momenten ihrer Balladen. Zwischen Lucy und Jekyll knistert es stets unterschwellig, während ihre ohnmächtige Angst vor Hyde förmlich spürbar ist. “Gefährliches Spiel” funktioniert daher dramaturgisch nicht hundertprozentig, ist aber dermaßen eingehend und mit so viel prickelnder Erotik inszeniert, dass man die fehlende Logik nahezu vergisst.
Auch abseits der drei großen Hauptrollen hatte man bei der Besetzung durchweg ein gutes Händchen. Erwähnenswert vor allem Sabine Töpfer (Nellie/Lady Beaconsfield) sowie Joel Kirby (Simon Stride/Spider), die in ihren Doppelrollen jeweils zwei völlig gegensätzliche Charaktere so gekonnt verkörpern, dass erst beim Schlussapplaus auffällt, dass es sich tatsächlich um dieselben Darsteller handelte.
Einziger kleiner Wermutstropfen: bei den (mengenmäßig beeindruckenden) Ensemblenummern wird der Chor von der Tontechnik eher stiefmütterlich behandelt und ist nur mit Text-Vorkenntnissen akustisch zu verstehen.
Das bleibt aber auch schon das einzige, was an diesem Abend stört. Die Leipziger “Jekyll & Hyde”-Inszenierung ist vor allem eins: bis ins Detail ausgereift. Experimente werden dabei ausschließlich dort gemacht, wo sie hingehören: von Jekyll – auf der Bühne, und nicht dahinter.
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