Ethan Freeman gehört zweifelsohne zu den großen Namen, die dem Genre “Musical“ im deutschsprachigen Raum ein Gesicht und Profil verliehen haben. Kaum eine große Charakterrolle fehlt in seinem bisherigen Repertoire und zurecht feiert er auf der Bühne auch aktuell immer wieder große Erfolge. Im Rahmen seines Engagements in “Footloose“ haben wir den beliebten Darsteller zu einem Interview eingeladen, das von seinen Wurzeln in den USA bis zu seinen neuesten Figuren seine verschiedenen Karrierestationen beleuchtet. Außerdem haben wir auch einiges über seine Kunst und sein Selbstverständnis als Mensch und Kunstschaffender erfahren…
Ich würde gerne zunächst einmal ein wenig auf deine Anfänge schauen. Du bist gebürtiger New Yorker, wo du auch deine Kindheit und Jugend verbracht hast. Wie war dein Leben dort? Kannst du uns ein bisschen davon erzählen?
Ich wuchs letztendlich in einer ziemlich privilegierten Zeit und Ort auf: Als Baby-Boomer in einem Mittelklasse-Pendel-Vorort bei New York City. Ich stamme aus größtenteils in den USA schon angesiedelten jüdischen Familien ab. Dort hatte ich, unter anderem, viel Zugang zur Welt der Bildung, Sport, Natur und Kultur, und konnte meine Jugend mit Menschen aus sehr diversen Hintergründen verbringen. Meine Familie war intakt und weltoffen, das Bildungssystem zumindest adäquat. Durch meine Familie hatte ich Zugang zu sehr unterschiedlichen Einflüssen, von Religion und bildender Kunst bis Musik, Theater und Reisen. Es war eine Zeit – die 60-er und 70-er – von vielfachen und großen kulturellen und gesellschaftlichen Umbrüchen, die ich, zum Teil durch meine etwas älteren Geschwister, auch sehr stark mitbekommen habe.
Du hast in Yale studiert und bist eigentlich ausgebildeter Opernsänger, ist das richtig? Um dort zu studieren, musst du aber ein wirklich guter Schüler gewesen sein…
Haha! Ich war definitiv kein wahnsinnig guter Schüler! Ich war im Bereich Sprache und in Fächern, die man unter der Bezeichnung ‘Humanities’ einordnen würde, stark. Aber z.B. im Bereich Mathe und Wissenschaften eher schwach – und das, obwohl ich einige Wissenschaftler in der Familie hatte. Aber zumindest zu der Zeit wurde man selbst, oder gerade bei einer Uni wie Yale, nicht nur nach seinen Noten bewertet, sondern eher an seinem menschlichen ‘Gesamtpaket’. Da war ich wohl interessant genug, als einigermaßen kompetenter Schüler, der aber schon sehr viele Erfahrungen gesammelt hatte – im Bereich Kultur zum Beispiel. Ich hatte zu der Zeit schon viel Theater gespielt, nicht nur in der Schule, sondern auch in qualitätsvollen Laien-Produktionen, von denen es bei uns viele gab. Ich weiß ganz ehrlich nicht, ob ich mit meinem damaligen Notendurchschnitt in der heutigen Zeit in Yale aufgenommen werden würde.
Wie hat es dich dann von Yale – einer der profiliertesten Hochschulen der Welt – in den USA ausgerechnet nach Wien verschlagen?
Das ist eine eher längere Geschichte. Es lag prinzipiell an dem New Yorker Gesangslehrer, mit dem ich seit ich 18 war, studierte. Er war der old-School-Auffassung, dass junge amerikanische klassische Sänger nach Europa sollen, um erste Berufserfahrungen dort, in der Wiege der Kultur so zu sagen, zu machen. Er hatte aus seiner Zeit als aktiver Sänger noch Verbindungen zu den Leitern des Opernstudios der Wiener Staatsoper und war in der Lage, für mich eine Einladung zu einem Vorsingen dort zu erwirken. Ich habe es bis in die finale Runde geschafft, aber wurde letztendlich nicht engagiert.
In der Zwischenzeit allerdings hatte ich mich in Wien schon gut eingelebt und durfte mein Studium an der Hochschule für Musik dort fortsetzen. Das war eine Art Extra-Zeit zwischen meinem ersten Engagement (noch in Washington, 1981 am Ende meiner Zeit in Yale) und all dem was danach noch kommen sollte, die mir bestimmt gut getan hat – sowohl künstlerisch als auch menschlich. Durch diese Zeit wurde ich so langsam richtig zu einer Art ‘Europäer’ .
Wie ist denn der Schwenk von Oper zu Musical bei dir verlaufen?
Musical hatte ich in meiner Schul- und Uni-Zeit, neben Oper und Operette, natürlich auch schon immer gemacht. Also war es überhaupt kein fremdes Genre für mich. Ich war eigentlich immer schon eine Art Hybrid, zwischen Schauspieler, klassischem Sänger und Rock-Pop-Jazz-Musical-Interpret – ein Zustand, der sich im Laufe meiner Karriere als wahnsinnig wichtig erwiesen hat! Nach endgültigem Ende meiner Wiener Studiums-Zeit wurde ich für eine Deutschland-Tournee des Kindermusicals “Timuria” engagiert, in dem die Cast aus unterschiedlichen Bereichen stammte: Tänzer, Schauspieler, Pantomime und Sänger. Es war ein ganz neues Stück, auch eine Art Hybride mit sehr schöner Rock-Pop-Musik. Eigentlich ein bisschen vor seiner Zeit, da kommerzielles Musical überhaupt erst parallel mit “Cats” in Hamburg ein Ding wurde. Und dieses Ding in Hamburg wurde dann auch tatsächlich meine nächste Station- als Opern-parodierender Piratenkater Growltiger – und damit war ich ab dem Zeitpunkt vollständig im Musicalgeschäft drin!
Was sind für dich die fünf vielleicht prägendsten Stationen/Rollen deiner bisherigen Karriere?
Eine schwere Frage, aber wahrscheinlich: “Cats”, “Das Phantom der Oper”, “Elisabeth”, “Die Schöne und das Biest”, “Jekyll & Hyde” und “Aladdin”.
Da waren aber auch so viele andere Rollen, die für mich auch SEHR wichtig waren, künstlerisch wie auch beruflich: Bonifatius zum Beispiel, oder Leopold Mozart, oder Javert, um nur ein Paar zu nennen. Um bei der Frage richtig in die Tiefe zu gehen, müsste ich wahrscheinlich eher ein eigenes Buch schreiben! [lacht]
War es für dich keine Option, am Broadway oder generell in Amerika oder England dauerhaft dein Lager aufzuschlagen?
Das Schicksal ist merkwürdig. An einigen Stellen in meiner Laufbahn hätte so etwas vielleicht passieren können – ich war auch wirklich nicht schlecht etabliert in London, z.B. in den 90-ern. Ich hatte über die Jahre auch einige wichtige Auditions in New York. Aber da kam es doch nie zu einem entscheidenden Engagement und aus London hat es mich immer wieder doch zurück in den deutschen Sprachraum verschlagen. Ich hätte natürlich gerne auch was am Broadway gespielt, aber irgendwann wurde es mir nicht mehr wichtig genug, mein ganzes Leben deswegen komplett auf dem Kopf zu drehen. Dazu muss ich fairerweise sagen, dass die Konkurrenz für mich in New York erheblich größer gewesen wäre, als es zu der Zeit in Europa war. Ich war hier am richtigen Ort zur richtigen Zeit.
Man könnte bei einem Blick auf deine Vita denken, dass dein Rollenfach oftmals Figuren bedient, die man als Intellektuelle beschreiben kann. Ist da etwas dran?
Absolut Jein! Komplexe Figuren scheinen mir zu liegen, und sind natürlich am interessantesten zu spielen. Aber da geht es beim Schauspiel immer eher um den emotionalen Tiefgang einer Figur und nicht um deren Intellekt. Und ich glaube, ich habe inzwischen endgültig bei “Frankenstein Junior” bewiesen, dass ich auch ziemlich hirnlos spielen kann! [lacht]
Viele deiner Figuren könnte man auch mit dem auf Englisch sehr treffenden Begriff ‘cunning’, also ‘gerissen’ oder ‘durchtrieben’, beschreiben – Dschafar, Richelieu, Captain Silver, um einige Beispiele zu nennen. Reizt dich das Antagonistische besonders?
Was ziemlich lustig ist, da ich mich persönlich überhaupt nicht als clever oder gewieft und ‘cunning’ empfinde, sondern oft eher das Gegenteil. Aber es ist wahr, dass das alles Rollen sind, in denen die Figur die wahren Motivationen für ihre Handlungen verbergen möchte oder muss, vor anderen und manchmal auch sogar vor sich selbst. Das verleiht solchen Antagonisten-Rollen eine interessante Vielschichtigkeit.
Die Bösen darzustellen, gehört irgendwie auch zu deinem Repertoire. Neben genannten Rollen natürlich auch Mister Hyde oder Cagliostro. Ist es für die Psyche nicht auf Dauer etwas anstrengend, oder ist es vielleicht sogar erhebend, immer wieder in diese Tiefen zu tauchen?
Das ist keine psychologische Belastung, weil es sich um Schauspiel handelt. Ich glaube noch dazu, dass in diese Tiefen zu tauchen zum Mensch-Sein gehört. Und ich bin sowieso dazu geneigt, die menschlichen Abgründe, auch meine eigenen, zu erforschen.
Gerade warst du mit “Footloose” auf Tour. Du gibst, finde ich, deiner Rolle mehr Facetten und Tiefe als dein Counterpart im bekannten Tanzfilm. Kannst du die Figur des Reverend Moore aus deiner Sicht beleuchten?
Uuii, ich finde John Lithgow, den Darsteller in der originalen Film-Fassung eigentlich ziemlich fantastisch, aber es gibt ein paar Aspekte der Figur, die in der Musical-Version vielleicht etwas anders beleuchtet sind. Man darf seinen tiefen Schmerz und Glaubenskonflikt bezüglich des Verlusts seines Kindes etwas mehr ans Licht bringen, würde ich sagen.
Was ist für dich das Reizvolle an dieser Show?
Die Show sprüht vor positiver Energie und es ist eine schöne Herausforderung, trotz dieser Leichtigkeit und Frische den Figuren Tiefgang zu verleihen.
Was steckt von Ethan im Reverend?
Als Vater – inzwischen von Jugendlichen, und auch als ehemaligem Sohn, finde ich sehr viel von mir in der Figur – auch einfach als Mensch, der mit den ganzen Aspekten des ‘Mensch-Seins’, auch den religiösen und spirituellen, immer wieder hadert.
Wie ist es für dich und deine Bühnenpartnerin Kerstin Ibald, von einem ausschließlich sehr jungen Ensemble umgeben zu sein? Seid ihr außen vor, werdet ihr bewundert oder merkt ihr gar keinen Unterschied?
Wie wir genau von den jüngeren Kolleginnen wahrgenommen werden, kann ich nicht sagen- aber da ist auf jeden Fall viel gegenseitiger Respekt, Humor und Kollegialität vorhanden. Die Beziehungen zu den vielen jungen Kolleg*innen empfinde ich als überaus egalitär, erfrischend und positiv!
Du hast in einem Interview mal das Wortspiel gemacht, als du gefragt wurdest, ob du nochmal Webbers Phantom spielen würdest: “Das Phantom der Oper wäre bei mir mittlerweile eher ‘Phantom, der Opa’.“ – Das ist natürlich beim ersten Hören sehr amüsant, aber wie stehst du eigentlich zu dem, was hinter dieser Aussage steckt?
Ich bleibe dabei, dass jede Rolle, so sehr man die auch mal gut und gerne und über Jahre gespielt hat, seine Zeit hat. Ich finde ein Phantom mit 65, das versucht diese Art von Beziehung zu einer sehr jungen Christine zu etablieren, nicht mehr tragisch im romantischen Sinn, sondern eher auf einer ganz anderen Art problematisch, oder? [zwinkert]
Wird Ethan Freeman jemals – vor dem Tag graut uns schon jetzt – in die wohlverdiente Rente gehen oder bist du eher Typ Angela Lansbury – auf der Bühne bis zum Schluss? Wo siehst du dich in 10 Jahren?
Ich habe nicht wirklich vor, in Rente zu gehen. Das machen die meisten Künstler oder kreativen Menschen meines Erachtens eh nicht wirklich, es sei denn, dass sie gesundheitlich dazu gezwungen werden. Also, keine Angst – ich werde mich bestimmt bemühen weiter zu spielen, entweder bis ich nicht mehr kann, oder bis keiner mich mehr sehen will! Und nebenbei malen und hoffentlich noch aller Art Musik machen!
Gibt es Rollen bei Stücken von Webber, Disney, Sondheim und Co, die du gerne gespielt hättest oder noch auf deiner To-Do-Liste stehen?
Die Rolle von Sweeney Todd zum Beispiel hat mich über Jahrzehnte immer wieder angelockt. Bis jetzt ist es nicht dazu gekommen, unter anderem, weil gerade im deutschen Sprachraum die Rolle oft mit einem Opern-Bariton besetzt werden kann, von denen es inzwischen viele gibt, die auch sehr gute Schauspieler sind und oft schon bei den Stadt- und Staatstheatern fest unter Vertrag stehen. Also, es war nicht leicht für mich, da ich eher als Musical-Darsteller bekannt bin, an diese Rolle ranzukommen.
Neben deiner darstellerischen Tätigkeit bist du auch als Künstler aktiv. Seit wann malst du auch vermehrt?
Der Wunsch vermehrt zu malen ist über die letzten 10-15 Jahre nach und nach in mir gewachsen – phasenweise mal mehr, mal weniger. Endgültig in der Corona-Zeit, während das Bühnenspiel nicht möglich war, habe ich mich mehr und mehr der Malerei gewidmet, auch als kreativen Ausgleich.
Wie würdest du deine Kunst beschreiben?
Ich sehe meine Kunst zumindest zum Teil, als Erweiterung meines Daseins als Geschichtenerzähler, auch wenn es eine andere Form nimmt als auf der Bühne. In der Malerei finde ich eine Form von Improvisationskunst und kreative Freiheiten, die man als Musicaldarsteller eher nicht hat, weil man dort kollaborativ arbeitet und die künstlerischen Visionen von anderen verwirklichen sollte. Ansonsten, denke ich, dass ich eine starke Liebe zu Farben habe und interessiere mich für deren Verbindung mit Emotion.
Stell dir mal vor, du wärst eine Musical-Diva. Mit welcher Rolle wärst du gerne bekannt geworden?
Haha – eine lustige Frage: Ich denke, ich würde in dem Fall die Rolle von Norma Desmond gerne kreiert haben!
Gibt es einen Stoff, der dir über den Weg gelaufen ist, von dem du sagst “Das müsste man mal zu einem Musical machen!“ – und was wäre das zum Beispiel?
Da gab es einen britischen Film in der 90-ern. “Truly, Madly, Deeply” mit Alan Rickman und Juliet Stevenson in den Hauptrollen, den ich immer für einen guten Stoff für ein Musical gehalten habe. Außerdem habe ich immer gedacht, dass der deutsche Film “Goodbye Lenin” zu einem sehr guten Musical hätte gemacht werden können. Schade, dass niemand das bis jetzt im Angriff genommen hat. Leider war ich auch selber immer etwas zu faul dazu!
Hast du eine besondere Lebensweisheit, nach der du lebst und die du teilen möchtest?
Bleib offen, aber skeptisch, stark und selbstbewusst, aber auch flexibel und empathisch. Hirn und Herz. Solche Gegensätze möchte ich gerne leben, auch wenn es mir oft nicht gelingt.
Lieber Ethan, ich denke, damit sprichst du vielen aus der Seele. Vielen herzlichen Dank für das offene und erhellende Interview! Die MUZ drückt dir die Daumen, dass es mit “Sweeney Todd“ doch noch klappt und freut sich, dich bei deinen kommenden Bühnenabenteuern aus dem Auditorium weiterhin begleiten zu können!
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